Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Keine Agnst vor'm Feeler

Für ein Freies Radio in Berlin

Wenn niemand weiß, was Sache ist, dann ist das Sache der Experten. Wenn wir also schon sonst nichts wissen, dann haben wir im Experten wenigstens eine Autorität, auf die wir uns ­ das liegt in ihrer Natur ­ blind verlassen können. Die Autorität des Experten beruhigt. Darin liegt sozusagen sein Beruf, sein professioneller Sinn. Wir wissen, daß Fortschritt in der Erkenntnis der Natur ohne Fortschritt in der Erkenntnis der Gesellschaft tödlich werden kann. Wir wissen um das speziÞsche, arbeitsteilige Wissen der Experten und um ihren Blick über den Tellerrand, der keinen Horizont erschließt.

Die Aufgabe der Medien in diesem Spiel der Blendungen? Die Rhetorik liefern, den Meinungen und Waren Rhythmus geben, die Formate gestalten, unter denen der Geist geistloser Verhältnisse sich darstellen kann, und ­ mit tiefer Betroffenheit und Entsetzen ­ sein Negativ, die Ohnmacht in der Retorte. Hier Sender, dort Empfänger; ich Chef, du Turnschuh.

Was hieße unter diesen Bedingungen: ein Freies Radio machen? Dazu noch auf UKW und in Berlin? Wo seit Menschengedenken eine Landesmedienanstalt den Äther verwaltet wie andernorts eine Justizvollzugsanstalt ihre Gefangenen. Wo im Kommerzfunk der Senderkrieg tobt und der öffentlich-rechtliche Rundfunk dank Fusionsstaatsvertrag weiter an Kontur verliert. Die Experten sehen das zwar anders, wo wir eine Brache sehen, erblicken sie die vielfältigste Radiolandschaft Europas. Sie reden ihre eigenen Apparate schön, und in der Tat, Sender gibt es viele in Berlin. Nur stehen sie unter dem Diktat einer Konkurrenz, die, jenseits der Sparten und Zielgruppen, zu keinem Unterschied mehr fähig ist, und die vor allem eines erzeugt: ein konkurrenzlos gleichförmiges Grauen mit konkurrenzlos hoher Abschaltquote.

In Berlin ist der Medienbeauftragte ein alter Bertelsmann, ein Experte mit vielen alten Bekannten. Mag sein, daß er von Medien keine Ahnung hat, von ihren Formgesetzen und Interdependenzen, ihren ästhetischen Potentialen, auch weiß er selbst auf Nachfrage nicht, was ein Freies Radio ist: „Was soll denn das sein?" bellte er beim „Innovationsdialog" der Investionsbank Berlin einen Medienjournalisten der Radiokampagne an, aber da ist er eben ganz Bertelsmann und ganz Experte, und also gewissermaßen ganz in seinem Element. Moment: Radiokampagne?

Ja, die gibt´s. Eine Kampagne für ein Freies Radio in Berlin, das auf UKW jederzeit und überall empfangen werden kann. Ein kleines gallisches Dorf im Anlauf. Mit Performances, kleineren Parties, Piratenfunk und Veranstaltungen, die nicht mit P anfangen. Mit einem Auftritt beim Karneval der Kulturen, BeneÞz im Eimer, Lesungen im Club der polnischen Versager oder einer eigenen Bühne bei der Fête de la Musique. Es gibt Vorträge, Meetings und Hörmodelle sowie ­ allmählich ­ Kontakte, die vom Bundesverband Freier Radios über indymedia und attac, Musiker/innen und Bildende Künstler/innen, ffb und twen fm über schwul-lesbische Initiativen bis zum medienpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus reichen. Dabei begreift sich die Radiokampagne zunehmend als eine Netzwerkfunktion. Für ein Projekt, das seit vier Monaten ohne jede Finanzierung arbeit, eine notable Bilanz. Moment: Netzwerkfunktion?

Hörmodelle? Brecht überlieferte die Forderung, den Rundfunk „aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat" zu verwandeln. Und Walter Benjamin hatte in den zwanziger Jahren einige Versuche in Form von „Hörmodellen" unternommen. Auch bei den Hörmodellen der Radiokampagne handelt es sich zunächst nur um Versuche, selbstbestimmt mit dem Medium Radio zu arbeiten. Damit ist ausgeschlossen, daß öffentlich-rechtliche Radios imitiert werden. Freie Radios sind zudem nicht kommerziell; alle Sendungen werden unbezahlt bestritten, es geht um die Lust am Machen und um die Lust am Spiel mit der Form. Wie sollten dann aber Radiosendungen gestaltet sein, die weder die, die sie machen, noch die, die sie hören, überfordern? Geht das überhaupt: ein Radio ohne Profis und Experten? Eine Plattform, die offen ist, ohne beliebig zu sein? Ein Radio mit kleinen Macken und Fehlern, mit Sendepausen, Versprechern und hier und da ein wenig Charme? Ein Radio, das keine news einkauft, sondern mit indymedia.org und amnesty international arbeitet, das internationale oder schwul-lesbische Presseschauen bringt, Radiosalons und Radiokochkurse bestreitet, Radiomangas und irgendwie auch sich selbst erfindet?

„Radio Hörer und Sender sind wir." (Kraftwerk, 1977)

w.lms

Information: http://radiokampagne.de. Dort auch die Online-Petition und Kontaktadressen.

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