Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wo führt diese Brücke hin?

Nach der Flucht des genmanipulierten Wurstmenschen vor seinen polnischen Erzeugern (Enthusiasmus, Verzweiflung, Mafia), die mit ihm das große Geld zu machen hofften, landete er in Berlin. In einer Zeit, da er sich wieder einmal vor seinen Verfolgern verstecken mußte, führte man in Deutschland und den übrigen Ländern der Europäischen Union gerade eine neue Währung ein.

Der Wurstmensch verließ sein Versteck und begab sich auf der Suche nach etwas Eßbaren in die Nähe einer Imbißbude. Doch statt dort Pommes zu finden, sah er auf dem Boden ein Stück buntes Papier mit einem silbernen Streifen. Er hob es auf, betrachtete es eine Weile und ging zurück ins Gebüsch, wo er seinen Schlafplatz hatte, um sich von den Strapazen der Nahrungssuche zu erholen.

Er drehte das Papier hin und her. „E-u-r-o" buchstabierte der Wurstmensch. Ein Geldschein. Ein Geldschein mit einem silbernen Streifen auf der einen Seite, aber auf der Rückseite fehlte das Gesicht. Das haute ihn um. War er sich doch sicher, daß auf einen Geldschein ein Porträt gehört, weil ein schöner Geldschein mit einem schönen Kopf darauf bestimmte, nachahmenswerte Tugenden versinnbildlicht. Wo sind die Köpfe alle hin? Clara Schumann, Gauß ... was ist mit ihnen passiert? Statt kluger Menschen nur Brücken und Kirchen ohne Fenster. Die Mosaikfenster hat man ausgeschnitten und neben die Brücken gelegt.

Plötzlich war der Wurstmensch auf einer Baustelle, einem Aquädukt, einer Brücke vielleicht. Unten schlängelte sich ein Fluß, aber man sah keine Menschen. Der Wurstmensch lief auf der Brücke hin und her, sah plötzlich auf der anderen Seite eine Gruppe von jungen Frauen. Er freute sich darüber und ging zu ihnen hin. Er mußte erstmal die römische Brücke überqueren, dann zum anderen Ufer hinunter, noch paar Schritte flußaufwärts, und da war er ganz nah bei der ersten Frau, die bis zu ihren Knien im Wasser stand.

­ Guten Tag, liebe Frau ­ sagte er schüchtern.

­ Guten Tag, ich habe gerade Shampoo von Jojoba benutzt und meine Haare glänzen jetzt und sehen gesund aus ­ sagte sie und lächelte dabei verführerisch. Der Wurstmensch machte einen Schritt in ihre Richtung, doch plötzlich merkte er, daß sie sich in eine Hausfrau verwandelte. Sie schüttete Waschpulver in den Fluß, der nun kein Fluß mehr war, sondern eine Waschmaschine. Die Hausfrau zeigte ihrer Nachbarin die sauberen Hemdchen ihres Kindes.

­ Was machen Sie denn da? Sie werden die Fauna des Flusses zerstören! ­ schrie der Wurstmensch auf.

Niemand hörte ihn. Es tauchten noch Kinder auf, eine weitere Frau und ein eleganter Mann. Die werden es mir bestimmt erklären können, was hier abläuft, dachte der Wurstmensch.

­ Wenn Du Dich bei uns versichern läßt, wirst Du mit Sicherheit einen ruhigen Lebensherbst haben ­ sagte der elegante Herr.

Der Wurstmensch lief wieder auf die Brücke, um noch mal nachzudenken, was das alles zu bedeuten habe. Er guckte nach unten, doch dort gab es keinen Fluß mehr, nicht mal eine Waschmaschine, sondern einzig Bahngleise und einen überfahrenen Körper: Clara Schumann lag halbiert auf den Gleisen.

Der Wurstmensch wachte schweißgebadet auf. Er dachte, gut, daß es nur ein Traum war. Oder war es doch keiner? In seiner Hand knüllte er immer noch den Geldschein mit der schrecklichen Brücke.

Der Dicke Wurstmensch

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