Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wilde Horden aus dem Osten

In den Medien sind vietnamesische Migranten nicht existent ­ es sei denn als Kriminelle

Etwa 9200 Vietnamesen leben offiziellin Berlin. Sie sind im Stadtbild präsent: Lebensmittelgeschäfte, Imbißbuden, Blumenläden, Ramschboutiquen. Vornehmlich im Ostteil gibt es allerorten Läden, die von Vietnamesen betrieben werden. Das ist legal, keineswegs gesetzeswidrig – auch der Ostfront-Reporter unser aller Moralpostille Bild kann dort ohne jede Bedenken einkaufen gehen.

Wenn allerdings in den Medien einmal von Vietnamesen in Berlin die Rede ist, dann allenfalls in Berichten über die vietnamesische Zigaretten-Mafia. So war der Prozeß um „Ngoc Thien", „den Barmherzigen", Boß einer Bande von vietnamesischen Schutzgelderpressern, die auch vor Morden an ihren Konkurrenten nicht zurückschreckten, zuletzt der einzige Anlaß, wieder einmal über „die Vietnamesen" zu schreiben. Das war dann natürlich: Kriegsberichterstattung. Wilde Horden aus dem Osten (verschworen! verschwiegen!! brutal!!!) machen das Land unsicher.

Durch die Einseitigkeit solchen Journalismus' – indem man nur über die tatsächlich vorhandene Kriminalität unter vietnamesischen Migranten informiert, aber alle anderen Aspekte ihres Lebens ignoriert – entsteht das Bild des kriminellen Ausländers, der die Sicherheit Deutschlands bedroht. Die Folge ist die Stigmatisierung einer Bevölkerungsgruppe: Der Vietnamese an sich ist ein Krimineller.

Fragwürdig an dieser Berichterstattung ist nicht nur, daß sie jegliches andere, will heißen: normale Leben der vietnamesischen Migranten (zu dem gewiß auch Probleme gehören) als nicht berichtenswerte und unwesentliche Ausnahmen diskreditiert, sie verschweigt zudem die Gründe für die Entstehung der Kriminalität, des illegalen Zigarettenhandels. Selbst im Fall des monströsen Erfurter Blutbads wurde beständig nach dem Motiv des Amokläufers gefragt, bei den vietnamesischen Zigarettenhändlern nicht.

In den achtziger Jahren sah sich die DDR wegen akuten Arbeitskräftemangels genötigt, Aufbauhelfer auch außerhalb des Landes, in den „sozialistischen Bruderstaaten" zu suchen: Über staatlich vereinbarte Arbeiterlandverschickungen kamen zunehmend Vietnamesen ins Land, die sogenannten Vertragsarbeiter. 1989 waren es in Ostdeutschland insgesamt 60000. Nach dem Kollaps der DDR wurden die meisten derer, die zum Aufbau des Sozialismus einbestellt worden waren, in ihren Betrieben als erste entlassen, zum Teil unter Umgehung geltenden Rechts.

Die Vietnamesen, die in Deutschland bleiben wollten bzw. um Asyl baten (hauptsächlich ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter aus Osteuropa), standen nach der Wiedervereinigung vor einer schwierigen Situation. Es bestand ein relativ hoher Druck, den Erwartungen der daheimgebliebenen Angehörigen nachzukommen, andererseits kaum die Chance, eine (Lohn-)Arbeit zu finden. Blieb die Selbständigkeit, für die es aber eines Grundkapitals bedurfte.

Natürlich ist der illegale Zigarettenhandel nicht nur in der prekären wirtschaftlichen Lage der Vietnamesen begründet, sondern auch in einer nicht erfolgten Integration in der DDR ­ die Vertragsarbeiter wurden in ihren Wohnheimen regelrecht eingesperrt und hatten, staatlich gewollt, kaum Kontakt zur einheimischen Bevölkerung ­ wie auch später im wiedervereinigten Deutschland. Bis zur beschämend späten Anerkennung ihrer Aufenthaltszeit in der DDR im Jahr 1997 konnte von Integration gar keine Rede sein: Wegen der ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Fragen war es den Vietnamesen unmöglich, längerfristige Perspektiven für ein Leben hier zu entwickeln. Die Erfahrung des Umstands, von der deutschen Gesellschaft als Ausländer zweiter Wahl behandelt zu werden ­ eine potenzierte Benachteiligung mit gesetzlichem Segen ­ führte zudem kaum zur Achtung des „Rechtsstaats".

Von den in Berlin ansässigen Vietnamesen lebt fast die Hälfte in den beiden Großbezirken Lichtenberg-Hohenschönhausen (ca. 2900) und Marzahn-Hellersdorf (ca. 1400), wo früher die Wohnheime für die ehemaligen Vertragsarbeiter aus Vietnam existierten, die andere Hälfte ist über ganz Berlin verstreut. Die Heime sind mittlerweile aufgelöst, bis auf eines in der Gehrenseestraße, wo aber nicht mehr nur Vietnamesen wohnen. Die Ghettoburgen gibt es also nicht mehr, die vietnamesischen Migranten sind zu Nachbarn geworden: Sie verkaufen Bami Goreng, Plastikduschvorhänge, Batterien, Gemüse; einige handeln mit unversteuerten Zigaretten. Eine differenzierte Darstellung der vietnamesischen Migranten und ihres Lebens ­ mit all seinen Problemen ­ in den Medien täte Not. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Es gibt, wie gesagt, 9200 Vietnamesen in Berlin ­ 15 von ihnen wurde gerade der Prozeß gemacht, den Rest kennt die Berliner Presse nicht.

Gertrude Schildbach

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