Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Leben im Klischee

Der Kreuzberger Wrangelkiez

Nein, Herr Yousef möchte nicht reden. Bereits dreimal hat der Inhaber des „Import-Export"-Ladens in der Kreuzberger Wrangelstraße ein Interview gegeben. Zeitung, Fernsehen, Radio, alle sind schon dagewesen. Herr Yousef will in Ruhe gelassen werden: „Ich soll reden über Ausländer und Deutsche, über Islam, über arme Leute, das ist mir zuviel Blabla."

Die Bewohner der Wrangelstraße sind es müde, als Projektionsfläche zu dienen für Berliner Kiezromantik, Ausländerdebatten und Multikulti-Träume. Das Gebiet im nordöstlichen Teil von Kreuzberg, zwischen Spree und Görlitzer Bahnhof, mußte schon für allerlei Zeitungsartikel, Sozialstudien und Romane herhalten. Der Grund dafür ist, daß die typische Kreuzberger Mischung aus Multikulturalität, alternativem Leben und Armut hier so plakativ ist wie sonst nirgends. Auf einem kleinen Areal von knapp sechs Hektar wohnen rund 12500 Menschen. Knapp die Hälfte davon sind ausländischer Herkunft, die meisten Türken, außerdem Afrikaner, Araber und Asiaten. Im Kiez sind über 30 Prozent arbeitslos oder von Sozialhilfe abhängig. Da sind Klischees schnell bei der Hand. Und so wird, je nachdem, ob gerade vorbildliches multikulturelles Zusammenleben oder die wirtschaftlich-soziale Hauptstadtmisere illustriert werden soll, von der türkischsten Straße Deutschlands oder dem „Armenhaus Berlins" gesprochen.

Beim Anblick des Wrangelkiezes in Extreme zu verfallen, ist leicht. Entweder man liebt die Eigenheit des Viertels oder man haßt sie. Wer hier aus Überzeugung wohnt oder zuzieht, dem hat es die Lebhaftigkeit des Viertels angetan. Hier sind immer Leute auf der Straße. Türkische Familien picknicken bei beinahe jedem Wetter, Studenten verlagern ihre Lektüre in den Park, und beim ersten Sonnenstrahl sind die Gartenstühle der Kneipen voll. Alles geht, ob Punk, Angestellter oder Hochschuldozentin, hier findet jeder einen Platz zum Wohlfühlen. Und obwohl es schon lange keine besetzten Häuser mehr gibt, kann man doch allerorten die Überreste aus wilden Kreuzberger Zeiten erahnen: Wer im Sommer die Brücke vom Görlitzer Park Richtung Treptow überquert, sieht unter sich die bunten Dächer der Wagenburg Lohnmühlenstraße leuchten. Jenseits des Parks verkaufen kleine Läden noch tapfer Palästinenserschals, Che-Guevara-Aufnäher und marxistische Schriften, als ob morgen nicht schon längst heute wäre. Dazu gesellt sich ein großes Angebot an Bioläden, Bücherstuben, unabhängigen Kunst- und Kulturinstitutionen.

Die hier ansässigen türkischen MigrantInnen leben dagegen in einem völlig anderen Kosmos: Zum Haareschneiden geht man zum Friseur Bülent, statt im Bioladen kauft man in einem der zahlreichen türkischen Lebensmittelläden ein, abends trifft man sich auf einen Raki bei Demirel Yeri. Dicke alte Frauen sitzen auf Klappstühlen am Gehweg und beobachten ihre Enkelinnen, die ­ je nach Verwestlichungsgrad ­ mit langem Mantel und Kopftuch oder mit dicken Buffalo-Turnschuhen und offensiver Schminke paarweise durch das Viertel schlendern und unablässig in ihre Handys tippen. Eine „türkdeutsche" Welt, die weitgehend autonom ist. Die Deutschen grüßt man als Nachbarn oder Vermieter, doch ansonsten hat man nicht viel miteinander zu tun.

Der Wrangelkiez, ein Paradies der Toleranz? Nicht ganz.

Denn so bunt der Kiez ist, so dreckig, laut und ärmlich ist er auch. Nicht jeder liebt es, an den Supermarkt-Eingängen ständig von Alkoholikern angepumpt zu werden oder zwischen türkischen Halbstarken durchzulaufen. In den verkommenen Hauseingängen und engen Hinterhöfen der unrenovierten Mietskasernen sind die Briefkästen abgerissen, es stinkt allenthalben nach Urin. Wer es sich nicht leisten kann, in einem der denkmalgeschützten und hübsch sanierten Gründerzeithäuser mit Parkblick zu wohnen, muß mit den in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hochgezogenen Arbeiterunterkünften vorliebnehmen. Kein Wunder, daß wohlhabendere Familien mit Kindern hier nicht wohnen wollen. Zurück bleiben die, denen das Geld zum Wegziehen fehlt.

Wer hier Lehrer ist, sieht nicht die Multikulti-Idylle, sondern Kinder aus desolaten Familienverhältnissen, mit mangelnden Deutschkenntnissen oder Verhaltensstörungen. Wer Angestellter des Arbeitsamts Mitte oder Sozialarbeiter ist, begegnet MigrantInnen, die durch schlechte Sprachkenntnisse und Flucht in alte Traditionen ein völlig isoliertes Leben führen. Und wer hier Ladeninhaber ist, dem machen überteuerte Gewerbemieten, Ladenleerstand und eine zunehmend einseitige Gewerbestruktur zu schaffen.

Der Wrangelkiez, ein Armenhaus? Auch nicht ganz.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Im Herzen des Kiezes, auf der Wrangelstraße, ist sie vielleicht zu finden. Am unteren Ende, zwischen Skalitzer und Taborstraße, wohnen die Menschen, über die so viel geschrieben wurde. Und wer ohne Mikrophon auftritt und darauf verzichtet, mit wilden Klischees um sich zu werfen, hat Chancen auf ein langes Gespräch unter Nachbarn: Vier Ladeninhaber erzählen über ihr Leben in der Wrangelstraße.

Sabriye Özdemiraelik, Tabak und Zeitschriften, Wrangelstraße 87

Die 35jährige Türkin hat mit ihrem Mann vor 15 Jahren den Tabakladen in der Wrangelstraße gekauft. Sie beobachtet, daß immer mehr ältere Deutsche aus der Gegend wegziehen. Warum?

„Zu viele Ausländer, zu laut. Aber die Mieten sind trotzdem gestiegen. Seit ein paar Jahren ziehen eher Jüngere mit etwas mehr Geld hierher, Alternative, würde ich sagen."

Frau Özdemiraelik selbst mochte den Kiez schon immer: „Ich fühl mich hier richtig gut."

Während sie spricht, kommen Kinder, die nach Sammelbildchen fragen und einige, die heiser und etwas verschämt um eine Flasche Wodka bitten. „Die Alkoholiker? Ach was, die stören mich überhaupt nicht. Sind doch genauso Menschen. Was mich schon eher stört, sind meine Landsleute, die sich überhaupt nicht um ihre Umgebung kümmern, Müll auf die Straße werfen." Ihre Augen funkeln, als sie die Passivität der ansässigen türkischen Ladeninhaber kritisiert: „Als wir hier zu Weihnachten eine Straßenbeleuchtung organisieren wollten, um die Einkaufsgegend attraktiver zu machen, wollte keiner mitmachen. Genauso beim Straßenfest. Die Türken lassen lieber andere Leute etwas machen, aber selbst aktiv zu werden, kommt ihnen nicht in den Sinn."

Frau Özdemiraelik nimmt gelegentlich an Treffen des Wrangelvision e.V. teil. Auch beim türkisch-deutschen Elternverein war sie Mitglied, trat dann aber aus, weil „die endlos viel reden, aber nie konkret etwas tun. Wir kommen doch selbst nicht mit unseren Kindern zurecht, was sollen die Lehrer denn tun? Wenn ich meinem Kind zu Hause kein Deutsch beibringe und es nur vor der Glotze sitzt, habe ich doch Schuld, da kann die Schule noch so gut sein, aus dem Kind wird nichts."

Kommt sie trotz aller Verschiedenheiten hier mit allen gut zurecht? „Sowieso. Weil ich jeden, ob Türke, Kurde, Deutscher oder Afrikaner, einfach als Menschen ansehe. Wenn man wie Nachbarn zusammenlebt, klappt das doch ganz gut. So wie es hier im Kiez ist, sollte es eigentlich überall sein."

Ralf Ruthsatz, CDs neu und second hand, Wrangelstraße 84

Ralf Ruthsatz ist Inhaber des CD-Ladens „Silver Disk". In zwei dunklen Altbauräumen sind neue und gebrauchte Musik-CDs und Computerspiele ordentlich nach Musikrichtungen geordnet. Im hinteren Teil des Ladens sitzt Ruthsatz in seinem Büro und diskutiert ernsthaft mit einem Freund. Läuft das Geschäft gut?

Ruthsatz setzt mit einem Ruck seine Brille ab. „Wir haben hier massive Imageprobleme", sagt er. „Kunden von außen sehen den Wrangelkiez als Problemviertel, nicht als Einkaufsmöglichkeit. Von hier wandert die finanzkräftigere Kundschaft ab, und die, die bleiben, haben kein Geld. Schlimm ist das."

Ruthsatz möchte der Entwicklung nicht passiv zusehen, so wie viele seiner Kollegen in der Straße. 1999 gründete er den Verein „Wrangelvision", um die Situation der Gewerbetreibenden im Kiez zu verbessern. Wrangelvision organisierte das Straßenfest im Sommer mit und warb mit einer bunten „Kiezwundertüte" für den Standort rund um das Schlesische Tor.

„Ich bin kein Sozialarbeiter", sagt Ruthsatz, „Ich kann und will weder gegen die schlechten Schulen noch gegen die Penner vor dem Supermarkt aktiv werden. Ich bin Ladenbesitzer und vertrete vor allem die Interessen der Gewerbetreibenden."

Wohnen will Ruthsatz nicht im Wrangelkiez. Um Arbeit und Wohnung zu trennen, wie er sagt, doch auch, weil ihn Alkoholiker, Obdachlose und andere „Assis" stören. Zum Arbeiten fährt er gerne von Steglitz in die Wrangelstraße. Auch seine Einkäufe erledigt er hier. Schon aus Prinzip. Was noch fehlt, sagt er, ist ein Computerladen, ein Optiker und ein Sportgeschäft. Sonst gibt es im Wrangelkiez ja doch „fast alles".

Bülent Kaya, Herrenfriseur Bülent, Wrangelstraße 88

Gleich nach Abschluß der Schule, mit 17 Jahren, wurde Bülent Chef des Herrenfriseurladens in der Wrangelstraße. Die Situation im Wrangelkiez betrachtet der 27jährige kritisch: „Guck dich mal um, was hier passiert: Meiner Meinung nach wird der Bezirk hier völlig vernachlässigt. Nirgends kommt der Briefträger so spät wie hier, nirgends macht die BSR so spät in der Nacht noch Lärm ­ wenn sie überhaupt kommt. Woanders würden sie sich das nicht trauen. In den Sechzigern, zu der Zeit, als mein Vater nach Berlin kam, durften sich die türkischen Gastarbeiter nur in bestimmten Bezirken ansiedeln. Heute stört man sich daran, daß die Türken alle an einem Fleck wohnen. Seit dem Mauerfall und vor allem, seit Berlin Hauptstadt ist, würde man die ganzen Ausländer am liebsten wieder in die Randbezirke abschieben. Kreuzberg liegt wieder attraktiv und zentral. Also werden hier am Schlesischen Tor Wohnungen leergewohnt und die Mieten erhöht. Aber wo sollen die denn jetzt alle hin? Nach Lichtenberg vielleicht?"

Bülent hat als Vertreter der dritten Generation Schwierigkeiten mit althergebrachten türkischen wie deutschen Denkweisen: „Integration ist doch eine beiderseitige Verpflichtung. Ich verstehe Türken nicht, die hier seit 15 Jahren leben wie in der Türkei der sechziger Jahre und die hiesige Sprache nicht lernen wollen. Die verbauen sich nicht nur selber alle Chancen, sondern auch ihren Kindern. Aber genauso wenig verstehe ich meine Vermieterin, die mir jedes Mal mit dem Ausländeramt droht, wenn die Miete einen Tag überfällig ist. Dabei bin ich doch Deutscher wie sie. Das scheint sie nicht zu kapieren."

Bülent ist pessimistisch, was die Zukunft Deutschlands angeht: „Ob Deutschland in zehn Jahren noch Spaß macht? Der Arbeitsmarkt ist schlecht, die Steuern hoch, die Bedingungen werden schlechter. Ich habe mir ein Limit gesetzt: In spätestens vier Jahren bin ich hier weg. Die wollen doch, daß die Ausländer aus Berlin weggehen, oder? Kulturstadt und so. Dann tue ich ihnen eben den Gefallen."

Rolf Treder, Wrangel-Eck, Wrangelstraße 54

„Bei Ingrid und Rolf" steht auf dem angegilbten Schild der Eckkneipe. Die mit Nippes vollgestellten Fenster mit den Spitzengardinen lassen familiäre Atmosphäre erahnen: Hier trinkt, wer dazugehört. Drinnen tönt deutsche Schlagermusik durch den rauchgeschwängerten Raum, Rolf steht hinterm Tresen und zapft, während seine Frau mit zwei älteren Gästen ein Schwätzchen hält. Vor 16 Jahren übernahm das Berliner Ehepaar die ehemalige Vereinsgaststätte an der Ecke Wrangel-/Falckensteinstraße. Seitdem hat sich nicht viel geändert: schweres dunkles Kneipenmobiliar, ein Kohleofen, eine Juke-Box, ein Hinterzimmer mit Billardtisch und Darts. Die Stammgäste sind alles eingesessene Kiezbewohner: Viele Ältere, aber auch jüngere und erstaunlich viele Frauen. „Hier kommen viele seit Generationen her", erzählt Rolf, „wenn schon die Eltern da waren, kommen auch die Kinder nach". Es scheint, als ob unter den Stammgästen des Wrangel-Ecks der alte Nachbarschaftsgeist im Kiez fortbesteht. Rolf und Ingrid sind nicht nur Gastronomen, sie sind auch Kreditgeber, Seelentröster und Familienberater. „Wir nehmen unsere Verantwortung ernst", sagt Rolf stolz, „wir passen auf, daß sich niemand überschuldet oder in den Suff stürzt."

Ärger gibt es ohnehin kaum. Was auf den ersten Blick nach pieÞger deutscher Vereinsmeierei riecht, ist doch erstaunlich offen: „Es trinken auch manchmal ältere Türken hier ihr Bier, das sind genauso eingesessene Kreuzberger, da gibt's überhaupt keine Probleme". Die hohe Kneipendichte im Kiez und das kleine Portemonnaie der Gäste machen Rolf und Ingrid nicht reich, man teilt sich die Gäste mit anderen Kneipen wie dem Falckensteiner oder dem Wrangelkrug, „aber am Ende des Jahres stimmt die Bilanz".

Hat der Kiez eine Zukunft? „Der alte Kiez, so wie ich ihn kenne, wird langsam aussterben, immer mehr Deutsche ziehen weg. Wenn ich hier rausgehe, kommt hier ein türkisches Lokal rein. Aber das ist auch nicht schlechter. So läuft es eben, was willste machen."

Nina Apin

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 05 - 2002