Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Mauerschau und Gräbersichtung

Ein Wegweiser durch die literarische Topographie der Hauptstadt

„Weil sich Berlin wie ein ungeheurer, rätselhafter, düsterer Wirbel vor meine Seele gedrängt hatte, zog es mich unwiderstehlich dorthin. Dort mußte man schwimmen, kämpfen, bestehen lernen: oder man mochte untergehen." Die Ansicht Gerhart Hauptmanns markiert eine vor allem für die Zeit seit der Moderne relativ typische, heißt auch: immer wieder postulierte und tradierte Erfahrung. Die Stadt ist und sei ­ je größer, desto unabsehbarer ­ in besonderem Ausmaß ein Raum, der Reibungen provoziert, produktiv verunsichern, aber auch ruinieren kann.

Trotz und gerade wegen des lärmenden, lebendigen, dynamischen Charakters ist die Großstadt, ist Berlin ein Magnet ­ überhaupt, aber gerade auch für Künstler.

Man mag sich Berlin als eine Art Ithaka vorstellen – als einen Ort, der vielfältigste Utopien an sich bindet. Als eine von Ferne gesuchte und in der Nähe nur selten unambivalent vorgefundene Heimat. Doch gerade die Ambivalenzen sind es, die locken und kreativ werden bzw. sich abwehren lassen: das Unreine, Ungestüme, dicht Besetzte. Und es sind die Differenzen auch, die an dem Traum festhalten lassen, auch wenn er sich anders als erwartet einlöst.

Das Fernweh wechselt oft in Heimschmerz, der fast fanatischen Faszination folgen die Kreuzwege des Alltags, bis hin zum emotionalen Rückzug oder zur frostkalten Entfremdung. Nach der Freiheit der Visionen die Mühen der Eingebundenheit. „Berlin, die Stadt überhaupt, ist mir von Grund auf verhaßt und schädlich." (Hans Fallada) Derart apodiktisch formulierte Enttäuschungshaltungen spiegeln die Position des in der Prosa der Metropole Angekommenen ­ dessen, der einsehen muß, daß er (auch das ein Topos des Mythos) übers Maß von der Stadt dirigiert wird. Ungebrochener kann sich nur äußern, wer die Stadt als Besucher, also sehnsüchtig von außen betrachtet. Franz Kafka etwa erwartete von Berlin eine „stärkende Wirkung". Daß sie sich für ihn uneingeschränkt ergab, ist nicht zu sehen ­ und für die Belange der Kunst insgesamt eigentlich auch nicht zu erhoffen.

Liebesbezeugungen und Distanzprotokolle von Schriftstellern aus vierhundert Jahren finden sich in dem von Michael Bienert kompilierten, so genanntem „Dichter und Denker Stadtplan" Literarisches Berlin. In erster Linie gedacht als „Wegweiser durch die literarische Topographie der Hauptstadt", der zu Wohnorten, Wirkungs- und Ruhestätten führt, zu Mauerschauen und Gräbersichtung, ergibt die Sammlung nebenbei einen kleinen Katalog literarischer Stellungnahmen zu Berlin.

Literarisches Berlin ist ein schön aufgemachtes Findebüchlein und Nachschlagewerk en miniature. Ein erster Dominostein weiteren Nachspürens, das tiefer in die Biographien und Werke hineinführt. Mit der Broschüre und einem wetterfesten historischem Stadtplan in der Hand kann man sich informativ begleitet auf den Weg machen, die äußeren Erfahrungsräume der Dichter aufzusuchen. Man geht durch die Stadt gehen und weiß.

Ron Winkler

Michael Bienert: Literarisches Berlin. Dichter, Schriftsteller und Publizisten. Wohnorte, Wirken und Werke. Verlag Jena 1800, Berlin 2001. 10 Euro

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