Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
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Castorf, Stargarder/Ecke Pappelallee

Mit 80 Jahren steht Werner Castorf noch immer hinter seiner Registrierkasse aus dem Jahr 1935

Foto: Knut Hildebrandt

Das Fachgeschäft Castorf für Licht- und Sonnenschutz ist etwa gleich alt wie der Prenzlauer Berg. „Seit 1889 Castorf Eisenwaren" steht über der Eingangstür, die in hellbrauner Ölfarbe gestrichen ist: „Fachgeschäft für Licht- und Sonnenschutz". Seit 1889 – das sind 112 Jahre Familientradition. Eine lange Zeit hat Werner Castorf persönlich miterlebt. In Prenzlauer Berg ist er eine lebende Legende und fast so berühmt wie sein Sohn, der Regisseur Frank Castorf.

„Castorf seit 113 Jahren" steht auf ihrer Visitenkarte. Den Betrieb können sie kaum selbst gegründet haben. Wie fing es an?

Anfangs war „Castorf, der Eisenhändler" eine reine Eisenwarenhandlung in Friedrichshain in der Friedensstraße. Mein Großvater gründete sie 1889 und zog um die Jahrhundertwende in den Prenzlauer Berg, einen Bezirk, der sich erst entwickelte. Erst später führten wir ein Vollsortiment an Haushaltswaren und noch später Jalousien, Rollos und Markisen.

Bei dem Umzug von Friedrichshain in den Prenzlauer Berg hatte mein Groß-vater die späteren Geschäftsräume in der Pappelallee/Ecke Stargarder bereits im Rohbau gemietet. Wenn er den neuen Betrieb mit der Pferdedroschke erreichen wollte, mußte er immer schon an der Danziger/Ecke Schönhauser aussteigen. Die Kutscher weigerten sich, in die Pappelallee hineinzufahren ­ und das nicht nur der schlechten, holprigen Straße wegen. Mehr fürchteten die Kutscher, daß die Zigeuner, die am hintersten Eck der Straße lebten, ihre Pferde ausspannen würden. Von 1900 bis 1904 entwickelten sich die Straßenzüge jedoch sehr schnell. Nach der großen Schönhauser Allee waren die Pappelallee und die Stargarder Straße die nächsten Verbindungsstraßen, die befestigt wurden.

Warum der Umzug?

Weil es nach Meinung meines Großvaters entwicklungsfähiger und damit wirtschaftlich gesünder war. Der Prenzlauer Berg war ein junger Bezirk ­ die damalige Stadtgrenze lag noch ganz in der Nähe. Natürlich erforderten die Bauarbeiten Eisenwaren, Baubeschläge und Arbeitsgeräte. Mein Großvater soll immer behauptet haben, die Hälfte der Häuser gehörten eigentlich ihm. Denn die Hauswirte und Betriebe kauften damals per Monatsabrechnung. Die Beträge wurden in einer Kladde festgehalten und monatlich abgerechnet. Doch weil sich die Leute beim Bauen übernahmen, kam es zu Konkursen und zu erheblichen Verlusten. Dennoch entwickelte sich unser Betrieb sehr gut, denn die Mieter, die in die vielen neuen Wohnungen zogen, benötigten Haushaltsartikel. Castorf erweiterte sein Sortiment, und eine Vergrößerung der Räume wurde notwendig. Weil die Gründerzeithäuser eigentlich nur für kleine Eckgeschäfte konzipiert waren, mußten Durchbrüche gemacht werden. Mein Großvater wartete, bis der Zigarrenhändler nebenan pleite ging und übernahm dessen Räume. Anschließend gelang es ihm, auch das andere Nachbargeschäft zu übernehmen.

Der Boom der Gründerzeit endete mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Warenproduktion wurde erheblich eingeschränkt und die Zuteilungen reglementiert. Nach Kriegsende übernahm mein Vater, Willy Castorf den Betrieb. Es folgte eine wirtschaftlich schwere Zeit. Besonders zur Zeit der Inflation 1922 machte mein Vater große Verluste.

Wann beginnen ihre ersten persönlichen Erinnerungen an das Geschäft?

Persönliche Erinnerungen an den Betrieb habe ich seit meinem vierten oder fünften Lebensjahr. Das war etwa 1925. Da unsere Familie über dem Geschäft wohnte, zogen mich die Spielwaren natürlich magisch an. Später habe ich auch zu Weihnachten dort ausgeholfen. Zur Weihnachtszeit hatten wir ­ Aushilfen eingerechnet ­ oft bis zu 20 Verkäufer im Betrieb. Es stand außer Frage, daß ich den Laden irgendwann übernehmen würde. Nach der 221. Grundschule in der Pappelallee bin ich zur Schinkeloberschule gegangen, die in der Carmen-Sigeria-Straße, der heutigen Erich-Weinert-Straße lag. Für uns Schüler war ein abstruser Höhepunkt das Ärgern eines ehemaligen Zirkusartisten in der Stahlheimer Straße/Ecke Wichert. Er hatte ein kleines Häuschen, das hinter einer Mauer von etwa einem Meter fünfzig lag ­ ein beliebter Anlaufpunkt für Mutproben. Denn dieser Zirkusartist hatte Pferde. Die Flüssigkeit, die diese Pferde absonderten, sammelte er in einem Eimer. Die „Mutprobe" war sofort beendet, wenn der Eimerinhalt zielgerecht auf den Stürmenden traf. Doch die Rache des Zirkusartisten war nicht sehr erfolgreich, denn seine Trefferquote war eingeschränkt.

Weniger eingeschränkt war dagegen der Aufstieg Hitlers. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1930 Rekordhöhe. Zur Zeit der Machtübernahme 1933 war ich 11 Jahre alt. Dem Rassenwahn Hitlers sollten bald die Zigeuner zum Opfer fallen, die in der Pappelalle lebten und Pferdefleisch, später auch Eiscreme an die Armen im Bezirk verkauften.

Wirtschaftlich begann zunächst eine ­ wie man später wußte ­ inszenierte Verbesserung der Gesamtlage. Es gab Arbeit und Wirtschaft, Handel und Handwerk wurden auf Erfolgskurs getrimmt. Während des Krieges begann unser Betrieb, sich auf Lichtschutz zu spezialisieren, denn wegen der Luftangriffe wurden Verdunkelungen für Fenster und Türen gebraucht. Wir erhielten Warenkennziffern für die Lieferung und Montage von Verdunkelungsanlagen und Rollos. Damit war der Grundstein für die Ausrichtung auf den Bereich „Licht- und Sonnenschutz" gelegt, den wir im Verlauf von 70 Jahren immer stärker ausbauten.

Zu DDR-Zeiten war Castorf ein Privatbetrieb, die ja mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Das Geschäft soll dennoch recht erfolgreich gewesen sein.

Die DDR-Zeit war eine recht schwierige Zeit, denn die Wirtschaft wurde stark reglementiert. In den fünfziger Jahren wurde uns zweimal die Gewerbegenehmigung verweigert, mit dem Hinweis, wir müßten uns auf eine staatliche Beteiligung einlassen. Das hieß, daß zu einem bestimmten, auszuhandelnden Prozentsatz der Staat am Geschäft beteiligt sein sollte. Die meisten Betriebe sind damit auch ganz gut gefahren. Wir waren aber der Meinung, man solle privat wirtschaften und selbstständig entscheiden können. Schließlich fanden wir eine Gesetzeslücke. Indem mein Vater und ich selbst eine „Handelsgesellschaft" gründeten, wurden wir Gesellschafter und gleichzeitig Gewerbeträger. Damit war das Problem umschifft. Der Betrieb konnte privat bleiben. Indem wir uns weiter auf Markisen, Rollos und Jalousien spezialisierten, gelang es uns später, staatliche Verträge abzuschließen. Diese legten fest, welche Artikel in welcher Art und Menge man beziehen durfte. Diese Bestimmungen hatten leider nur theoretischen Wert, denn was auf der Strecke blieb, war die Produktion und Auslieferung der Waren. Man konnte jedoch versuchen, darüber hinaus Waren aus sogenannten Überplanbeständen einzukaufen. Wenn ein Betrieb mehr produziert hatte, als abgenommen wurde, durfte er diese eigenverantwortlich verkaufen. Wir fuhren jede Woche ein bis zwei mal nach Thüringen oder ins Erzgebirge, um solche „Schnäppchen" zu ergattern. Jedes mal, wenn wir rausfuhren, mußten wir einen Antrag auf Genehmigung stellen. Dann bekamen wir einen Stempel und erst dann durfte es losgehen.

Die planmäßige Warenlieferung haben wir nur ein einziges Mal zu hundert Prozent erhalten ­ das war 1989/90, als die Wende in Sicht war. Der Grund war, daß die Betriebe noch produzierten, die Hauptabnehmer Konsum und HO jedoch schon geschlossen hatten. Mit dieser Lieferung habe ich heute noch zu kämpfen. Denn als kluger DDR-Bürger bestellte man immer das Doppelte des Bedarfs, weil ohnehin nur ein Viertel geliefert wurde. Die Vollsortimentauslieferung bereitete mir daher große Probleme. Noch heute lagere ich DDR-Jalousien aus diesem Jahr.

Wie haben Sie die Zeit nach der Wiedervereinigung erlebt?

Meine Einwände gegenüber dem Weltkapitalismus waren von je her vorhanden und haben sich heute noch beträchtlich gesteigert. Denn in der Politik entscheidet nicht die Parteienfarbe, sondern die großen Unternehmen bestimmen den Kurs. Dennoch hat mich 1989 die Marktwirtschaft gereizt. Im Hinterkopf hatte ich damals noch eine vage Vorstellung von fairem Wettbewerb. Eine Utopie ­ eigentlich hätte man das erkennen können ­ wenn man es gründlich durchdacht hätte. Doch ich wollte mich dem wirtschaftlichen Wettbewerb noch mal stellen. Das habe ich ja auch getan. Ich sehe jedoch keine große Überlebenschance für den Einzelhandel. Wenn man über den großen Teich blickt ­ und die USA ist augenscheinlich oft das Vorbild der Bundesrepublik ­ dann sieht man, daß der kleine, mittelständische Einzelhandel, der früher die Verbindung zwischen „Groß" und „Klein" darstellte, vollkommen ausgeschaltet worden ist. Der gesamte Markt wird durch Ketten beherrscht, die die Preise und die Entwicklung beherrschen.

Und im Rückblick?

Ein Kaufmann hat zu allen Zeiten mit Belastungen leben müssen. Die Krise der Inflation richtete großen Schaden an, doch nach zwei Jahren stabilisierte sich die Lage vorläufig wieder. Heute steht die Konkurrenz durch große Firmen im Vordergrund, was eine dauerhafte Belastung darstellt.

Wenn ich an die DDR-Zeit denke, muß ich sagen ­ wiederhaben möchte ich sie nicht, obwohl ich vieles aus dieser Zeit schon akzeptieren würde, vielleicht in einer anderen Form. Damit diese Spaßgesellschaft, wie sie heute den Vorrang hat, ein bißchen normalisiert wird. Alles in allem, wenn man das rückblickend betrachtet: Wo gab es so etwas schon in so kurzer Zeit? Zwei so vernichtende Kriege, Inflation und Deflation, die Teilung und die Wiedervereinigung. Das war schon eine ganze Menge für die letzten hundert Jahre.

Interview Tina Veihelmann

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