Ausgabe 05 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Sparen bis der Arzt kommt

Jetzt geht es auch den Kindertagesstätten an den Kragen

„Der Senat will die Kitas als Bildungs- und Erziehungseinrichtung weiter entwickeln und die begonnene Qualitätsoffensive fortsetzen." So steht es geschrieben in der Koalitionsvereinbarung des amtierenden Berliner Regierungsbündnisses. Fortsetzung bedeutet nicht Neuanfang, demnach gibt es also bereits eine Qualitätsoffensive für die Kitas. Eine solche Sichtweise vorausgesetzt, wundert man sich nicht, daß in derselben Koalitionsvereinbarung andernorts, wo es handfester wird, fast ausschließlich von Personalkürzungen und einem großangelegten Rückzug aus der staatlichen Verantwortung für die vorschulische Erziehung in Form von Privatisierungen die Rede ist.

Konkret sollen die Erzieherinnen und Erzieher in Zukunft jeweils fünf Kinder zusätzlich betreuen und wegen Personalabbaus womöglich zusätzliche Leitungsaufgaben übernehmen. Darüber hinaus will man Praktikumsplätze in Zukunft zu einem Fünftel auf die vollen Stellen anrechnen. Insgesamt sollen so 1250 Arbeitsplätze eingespart werden, davon 856 in den heute noch kommunalen Einrichtungen, sowie etwa 400 bei den freien Trägern. Den ohnehin unterbezahlten Beschäftigten in den Kindertagesstätten droht damit drastisch mehr Arbeit, was vermutlich zu erhöhtem Krankenstand und stärkerer Fluktuation führen wird. Der Senat will auf diese Weise umgerechnet knapp 60 Millionen Mark jährlich weniger ausgeben.

Weitere 60 Millionen Mark will man durch eine Übertragung der Hälfte der rund 850 städtischen Kitas in Berlin an freie Träger sparen. Ein Angebot der Liga der Wohlfahrtsverbände (LIGA), 300 Einrichtungen zu übernehmen, liegt bereits vor. Die gleiche Summe allerdings wollte die gescheiterte Koalition aus SPD, FDP und Grünen durch die Privatisierung sämtlicher kommunaler Kindertagesstätten einsparen, was darauf verweist, daß die Zahl wohl eher dem Reich der Fabeln entstammt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert deshalb, zunächst eine genaue Analyse der tatsächlichen Kosten von Kitaplätzen durchzuführen. Bei dem angekündigten Verbleib von lediglich einem Drittel der gesamten Berliner Kitas in öffentlicher Trägerschaft befürchtet die GEW, „daß es ein Zwei-Klassen-Kitasystem geben wird. Die schönen und instandgesetzten Kitas werden an freie Träger übergeben und die heruntergekommenen Einrichtungen verbleiben in öffentlicher Trägerschaft."

Vollmundig erklären sowohl ver.di, in der rund 70 Prozent der Erzieher und Erzieherinnen organisiert sind, als auch die GEW, sie würden die Pläne verhindern. Dabei verweisen sie auf den elfwöchigen Kita-Streik 1990 in Westberlin, der immerhin der längste Streik der Berli-ner Nachkriegsgeschichte ist. Daß der Streik so lange dauerte, lag aber weniger an den Gewerkschaften, sondern daran, daß sich die Streikenden von ihrer Organisation ansatzweise emanzipiert hatten. Allerdings endete dieser Arbeitskampf zumindest vordergründig in einer Niederlage. Lediglich 248 zusätzliche Stellen gestand der damalige rot-grüne Senat zu. In den folgenden Jahren blieb der Bereich von Kürzungen aber weitgehend verschont.

Für den 26. April diesen Jahres hatten die Gewerkschaften immerhin zu einem dreistündigen Warnstreik inklusive Protestkundgebung am Rathaus Schöneberg aufgerufen. Ob das Imponiergehabe in Bezug auf die Verhinderung der Kürzungen ernst gemeint ist, muß sich noch erweisen. Insbesondere deswegen, weil man sich dann auf eine schärfere Gangart im Arbeitskampf wird einlassen müssen, um Erfolg zu haben. Zum Beispiel könnte man nach dem Vorbild von argentinischen entlassenen Fabrikarbeitern, den Piqueteros, Kreuzungen besetzen, um diesmal auch wirtschaftlichen Druck zu erzeugen.

Søren Jansen

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