Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1902

18. April bis 15. Mai

In der Versammlung der Berliner Milchhändler-Vereinigung spricht der Verbandsvorsitzende Lulay über Milchfälschungen. Er nimmt Bezug auf die Erklärung des Oberamtsmanns Ring-Düppel, der gesagt hat, daß 3/4 aller in Berlin verkauften Milch Halbmilch sei, die das Publikum als Vollmilch bezahlen müsse. Dies sei nicht richtig. Ein Beamter der Landwirthschaftskammer der Provinz Brandenburg habe vor längerer Zeit in Berlin eine Untersuchung der Milch vorgenommen und bei 500 Proben eine Fälschung festgestellt. Nun gäbe es in Berlin 2500 Milchhändler, und es würde selbst, wenn bei der Untersuchung jeder Irrtum ausgeschlossen gewesen sei, sich immerhin nur ein Fünftel, also nicht wie Herr Ring ferner behauptet, um 80, sondern um 20 % handeln. Die Milchhändler Berlins weisen aber die Behauptung zurück, daß sie die Fälschungen begehen. In den meisten Fällen brächten die Milchbauern die Milch bereits verschnitten zur Stadt. Wenn Herr Ring sage, daß die Milchcentrale nicht gegen Vollmilch gewesen sei, dem Minister vielmehr durch ihn deren Beibehaltung empfohlen habe, so werde dies durch die zweite Milchconferenz im Landwirthschafts-Ministerium widerlegt, in welcher Herr Ring als Vertreter der Milchcentrale mit dem Vertreter der Landwirthschaftskammer Prenzlau sehr eifrig für die Einführung des neuen Kunstprodukts „Marktmilch", sowie über die amtliche Freigabe der Milchverschneidung eingetreten sei. Damals haben die Vertreter des Berliner Milchhandels erklärt, daß ihre Anwesenheit in der Conferenz sich erübrige, da ihre Einwände nicht Gehör fänden.

Neue Blitzschutzvorrichtungen für Fernsprechleitungen und Sicherungen gegen das Eindringen fremder, hochgespannter Ströme, werden demnächst bei der hiesigen Stadt-Fernsprecheinrichtung zur Einführung gelangen. Durch die bereits erfolgte, zum größeren Teil aber noch bevorstehende Einführung des Doppelleitungsbetriebes werden die Fernsprechleitungen von der Erde isoliert. Bekommt nun eine Leitung an einer Stelle Berührung mit einer Starkstromleitung, z.B. mit dem Draht der elektrischen Straßenbahnen, so erhält sie in ihrer ganzen Ausdehnung die Spannung der letzteren, und ihre Berührung wird gefährlich. Bei der bisherigen Einzelleitung, welche zur Erde geführt war, genügten Schmelzsicherungen, wie sie in die Anlagen der Reichs-Telegraphenverwaltung zu Hunderttausenden eingeschaltet sind. Nun aber braucht man eine Spannungssicherung, welche wie ein sehr empfindlicher Blitzableiter eingerichtet sein muß. Zwei kleine Prismen aus harter Kohle werden mit sehr geringem Abstand (0,03 Millimeter) einander gegenüber befestigt, so daß die etwa eintretende Spannung hier ihren Weg zur Erde findet. Diese Blitzschutzvorrichtung wird mit anderen Schmelzsicherungen zu einem Apparat zusammengebaut, welche entweder auf dem Telephonamte oder bei dem Telephonabonnenten oder schließlich auch an jedem geeigneten Punkt der Fernsprechleitung aufgestellt werden kann.

Am 17. April wird durch Beschluß des Untersuchungsrichters beim Königlichen Landgericht II Hermann Ganswindt wegen Verdachtes fortgesetzten Betruges verhaftet. Am Abend von der Schöneberger Polizeibehörde zunächst in Gewahrsam genommen, wird er am nächsten Tag in das Untersuchungsgefängnis Moabit überführt. Ganswindt tritt seit mehr als zehn Jahren als Erfinder eines Tretmotors und eines Flugapparates auf. Die Ausstellungsetablissements am Mariendorfer Weg werden polizeilich geschlossen und das gesamte Inventar versiegelt. Hermann Ganswindt, der ursprünglich Jurist und später Landwirt war, hatte zu Anfang der 1890er Jahre eine Reihe von Versuchen angestellt, um einen lenkbaren Flugapparat zu konstruieren, der ohne Ballon funktionieren sollte. Dieser Apparat bestand im wesentlichen aus schraubenartigen Flügeln, die infolge ihrer schrägen Lage und durch schnelle Rotation imstande sein sollten, sich den Weg durch die Luft zu bahnen. Die Herstellung eines Motors, der gleichzeitig mit dem Flugapparat in die Höhe steigen sollte, machte dem Erfinder große Schwierigkeiten, insbesondere, weil die notwendige Schwere der die Rotation erzeugenden Maschine dem Aufflug hinderlich war.

Falko Hennig

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