Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Möglichst billig, möglichst schnell ­ und Punkt

Neue Tendenzen und alte Probleme in der Berliner Verkehrspolitik

Geschrei drang durch die Flure des Roten Rathauses. Ein so aufgewühltes Publikum hatte wohl niemand erwartet, als Mitte letzten Monats die Anwohner des Gebiets um den Alexanderplatz zu einer öffentlichen Informations- und Diskussionsveranstaltung zum Thema Straßenbahn geladen wurden. Es ging um eine Neubaustrecke – nicht die erste in diesen Jahren – und, wenn es nach dem Willen des Senats geht, auch bei weitem nicht die letzte. Die größtenteils recht betagten Anwohner schrien sich mit lauten Zwischenrufen den Frust von der Seele, die beruhigenden Worte des Sitzungsleiters wurden mit höhnischem Gelächter quittiert. Nichts gegen Straßenbahnen – aber nicht vor unserem Haus!

Eine der aufgebrachten Rentnerinnen wohnt in der Leipziger Straße, die die Verkehrsplaner als nächste im Visier haben. Neben der Lärmbelastung machte ihr der Elektrosmog Sorgen, der angeblich von einer Straßenbahn ausgeht. Sie berief sich auf Eberhard Diepgen, der ihr in einem Gespräch seine volle Zustimmung zugesichert habe. Da wurde im Saal auch mal gekichert.

Der ehemalige Regierende war, wie man weiß, einer der aufrechtesten Traditionalisten in der Berliner Verkehrspolitik: den Autos die Straßen, den Öffentlichen der Untergrund, koste es, was es wolle. Busspuren gab es nur gegen seinen erbitterten Widerstand. In den zehn Jahren seiner Regierungszeit wurde nur eine einzige längere Straßenbahnstrecke neu gebaut. Ansonsten war man nicht knauserig, was neue Verbindungen anging. Allein für die Verlängerung der U 8 nach Wittenau wurden Hunderte von Millionen verpulvert, obwohl dort seit 1990 jeder, der die alte Westberliner S-Bahn-Aversion überwunden hatte, mit der S 2 in einer halben Stunde ins Stadtzentrum kam. Eine ähnliche Fehlplanung war das Projekt einer U-Bahn-Verbindung vom Alex zum Lehrter Bahnhof, die allenfalls für Friedrichshain eine nennenswert bessere Anbindung bedeutet hätte. Zwar hatte schon die Koalitionsvereinbarung von 1999 gewarnt: „Die Verringerung des finanziellen Aufwands ist anzustreben". Diepgen hielt dennoch solange an der Planung fest, bis ihn die große Finanzkrise aus dem Sattel hob.

Die Vorliebe für prestigeträchtige Großvorhaben ist in der Berliner Verkehrspolitik notorisch. Allein die sogenannten Vorhaltebauten der BVG dürften Milliarden verschlungen haben – nie benutzte Streckenabschnitte, die für den Fall einer späteren Netzerweiterung „auf Vorrat" gebaut wurden. 19 dieser sinnlosen Tunnelstücke künden heute von den großen Plänen des Berliner Senats – für kaum einen dürfte sich je eine andere Nutzung finden als eine Lichtinstallation ausgeflippter Kreativer. Es gehört zu den ermutigendsten Ankündigungen der neuen Regierungskoalition, daß sie auf diese Art vorausschauender Planung in Zukunft verzichten will. Generell hält sie Netzerweiterungen „nur noch in Ausnahmefällen" für möglich, sie möchte sich stattdessen auf „Substanzerhaltung und -pflege" konzentrieren. Einen Vorgeschmack auf diese pragmatische Politik bot schon die provisorische Regierung im letzten Sommer unter Beteiligung der Grünen: Die übliche jährliche Tariferhöhung konnte sie zwar nicht mehr verhindern, aber der Weiterbau der U 5 wurde kurzerhand gestoppt. Ob dies allerdings den Anfang des versprochenen „Paradigmenwechsels in der Verkehrspolitik" darstellt, bleibt abzuwarten. Nach wie vor muß der Senat einige der alten Prestigeprojekte abarbeiten. Vom Lehrter Bahnhof etwa sagt selbst der Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, daß man ihn „in die Pampa hineingeplant" habe. Nun muß das gute Stück irgendwie mit dem Rest der Stadt verknüpft werden. Bis zu seiner Eröffnung im Jahre 2006 will die S-Bahn eine Verbindung zum Nordring schaffen, der gerade seiner Vollendung entgegengeht. Aus Richtung Prenzlauer Berg soll die Tram 20 verlängert werden, die bisher noch an der Eberswalder Straße endet. Und die Tram 23 könnte vom Virchow-Krankenhaus über Moabit zum neuen Zentralbahnhof führen. Auf diese Weise könnte am Lehrter Bahnhof doch noch städtisches Leben entstehen und verhindert werden, daß der erste Eindruck, den die Stadt dem ankommenden Zugreisenden bietet, eine menschenleere Wüste ist.

All diese Pläne bleiben aber solange in den Schubladen der Verkehrsverwaltung, bis „ihre Wirtschaftlichkeit nachgewiesen wird". Zwar existieren für alle vorgeschlagenen Strecken Untersuchungen, die ihnen ein ausgesprochen günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis bescheinigen. Noch günstiger sind aber kleinere Verbesserungen und neue Verknüpfungen vorhandener Linien, die ohne großen Aufwand im Rahmen besagter „Substanzpflege" erreichbar sind.

Selbst wenn nur dieser Teil der Planungen verwirklicht werden sollte, wird für Fahrpreissenkungen kaum etwas übrig bleiben. Im Gegenteil: Die BVG fordert für den 1. August schon die nächste Erhöhung. Die Tarifpolitik ist die größte Tragödie des öffentlichen Personennahverkehrs. In Westberlin haben sich die Fahrtkosten einer durchschnittlichen Familie seit 1977 nahezu verdreifacht. Zwischen 1995 und heute ist der Preis für eine Umweltkarte um knapp ein Viertel gestiegen. Heute gehört Berlin mit den Preisen für Einzelfahrscheine zu Europas Spitze. Nur einmal, Ende der Achtziger, hatte der rot-grüne Senat eine allgemeine Fahrpreissenkung erreicht und zahlreiche Sondertarife eingeführt. Die Fahrgastzahlen schnellten nach oben, wie auch die Verluste der BVG, für die die Stadt geradestehen muß. Die Regierung Diepgen schwenkte sofort wieder auf die alte Hochpreispolitik zurück. Von 1991 bis 1998 sanken die Fahrgastzahlen wieder; seitdem ist ein mickriger Anstieg zu verzeichnen: 5% in drei Jahren. Mit wechselndem Erfolg bemühen sich die Berliner Verkehrsbetriebe nun um die wohlhabenderen Fahrgäste, denen es vor allem um Service, Pünktlichkeit und Sauberkeit zu tun ist. Um dem Geschmack dieser anspruchsvollen Klientel auf der Spur zu bleiben, entdecken die Verkehrsbetriebe die Marktforschung und nerven den müden Berufspendler mit Scheußlichkeiten wie dem „Passenger Satisfaction Index". Für keinen Marketing-Gag sind sich die Unternehmen zu schade. So bietet die BVG künftig eine „Fahrgastortung" an, mit deren Hilfe jeder Nutzer per Handy Auskünfte über seinen (!) Aufenthaltsort einholen kann. Oder die neuen Fahrkartenautomaten: Über ihren Unterhaltungswert hinaus scheinen sie keine wirkliche Verbesserung zu bringen, außer vielleicht, daß mit ihnen demnächst im Wochenrhythmus neue Spezialtarife angeboten werden können. Dazu sind von nun an nur noch ein paar Stunden Programmierarbeit verbunden, statt, wie früher, ein Eingriff in die komplizierte Mechanik jedes einzelnen Automaten. Auf der Suche nach einem lustigen Tarif können sich die Fahrgäste durch immer neue bunte Bildschirmgrafiken klicken. Schon bald können sie dabei Überraschungen erleben: Die Tageskarte, die seit August letzten Jahres um mehr als das Doppelte teurer geworden ist, soll nach dem Willen der S-Bahn demnächst wieder billiger, die damals abgeschaffte Kleingruppenkarte erneut eingeführt werden. Das seinerzeit als besonders pfiffig angepriesene Berlinticket hingegen ist schon wieder in Ungnade gefallen. „Nachdenklich" stimmte es Wilfried Kramer, den Marketing-Chef, daß die S-Bahn mit diesem raffinierten Produkt offenbar keine Neukunden hinzugewonnen, sondern nur Käufer normaler Monatskarten verloren hat.

Foto: Knut Hildebrandt

Er sollte noch ein bißchen länger nachdenken. Der öffentliche Nahverkehr ist kein Marktstand, wo amüsierten Passanten je nach Tageslaune mal drei Äpfel zum Preis von einem und mal eine Banane gratis angeboten wird. Nur die Hälfte der Berliner Haushalte verfügt über ein Auto. Der öffentliche Nahverkehr ist ein essentieller Teil der städtischen Infrastruktur, so selbstverständlich wie Parkbänke und Schulen. Wenn er schon nicht wie diese über Steuern von der Allgemeinheit finanziert wird, so sollte er doch wenigstens zu unkomplizierten, klaren und langfristig festgelegten Preisen fahren. Möglichst billig, möglichst schnell ­ und Punkt.

Doch solange das Hauptproblem der Verkehrspolitik nicht gelöst ist, werden die Tarife noch viele Kapriolen schlagen. Das Auto wird so geliebt und so erfolgreich von Industrie und ADAC protegiert, daß noch kein Versuch einer verkehrspolitischen Wende über das Stadium wohltönender Reden hinauskam. Keine Regierung hat sich bisher an die Subventionen gewagt, die Jahr für Jahr dem Autoverkehr zugute kommen, indem seine immensen ökologischen, gesundheitlichen und städtebaulichen Folgekosten von der Allgemeinheit übernommen werden. Stattdessen versucht man, mit einem ständig schrumpfenden Etat sowohl die Infrastruktur des Individualverkehrs als auch die öffentlichen Transportsysteme auf der Höhe der Zeit zu halten. Eine aussichtslose Strategie, deren Scheitern die Verkehrspolitiker in besagten Reden regelmäßig beklagen, nicht ohne zu erwähnen, daß es mit dem nächsten Investitionsprogramm ganz bestimmt besser werde.

Zwischen Alex und Potsdamer Platz soll nun im Rahmen des Planwerks Innenstadt der Rückbau der breiten Verkehrsschneise der Leipziger Straße beginnen. So zweifelhaft die städtebaulichen und sozialen Ziele des Planwerks sind – verkehrspolitisch birgt es mitunter auch Vorteile. Die unglaubliche Zahl von 95400 Autos, die zur Zeit täglich am Alex vorbeidonnern, könnte sich demnächst erheblich verringern. Sollten in Zukunft tatsächlich schmale Fahrbahnen, enge Kurven und Platzanlagen die östliche Innenstadt dominieren, hat man mehr für den öffentlichen Nahverkehr erreicht als mit jedem Investitionsprogramm im öffentlichen Nahverkehr. Wenn dann auch noch – wie angekündigt – der Straßentunnel der Grunerstraße in den nächsten Jahren zugeschüttet wird, können sich auch die Anwohner der Rathausstraße wieder freuen: Zwar haben sie dann eine Straßenbahn vor dem Haus, aber dafür keine Autobahn mehr dahinter.

Otto Witte

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