Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Authentische Momente in der Metropole

Thomas Schadt auf den Spuren von Walther Ruttmann

Automatisierung, Beschleunigung und Parallelisierung der Lebensverhältnisse übten auf bildende Künstler der 1920er Jahre eine große Faszination aus: Man sprach vom Beginn einer neuen Epoche. Während die einen noch das Individuum zur Anpassung an die „kalte Umgebung" der modernen Metropolen aufforderten, hielten andere bereits mehr skeptisch als enthusiastisch Ergebnisse dieses Prozesses fest. In einer „Leistungsschau" aus Bewegung, Produktion und Begegnungen im Sekundentakt führte Walther Ruttmanns berühmter Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt 1927 schließlich eine Fülle neusachlicher Motive zusammen. Tatsächlich verlief der Alltag der Menschen trotz mancher Neuerung nicht in abrupt gesteigertem Tempo. Der Mythos von den rasenden zwanziger Jahren hat sich jedoch verfestigt. Jetzt, da man im Berlin jener Zeit gern die wahre Vorgängerin der heutigen Stadt sieht, hat der Dokumentarist Thomas Schadt ein Jahr lang eine Replik auf Ruttmanns Werk gedreht: Berlin. Sinfonie einer Großstadt ist ebenfalls ein 35mm-Schwarzweißfilm, der von sinfonischer Musik untermalt aus Szenen eines Jahres einen Tagesablauf montiert. Die sorgfältige Planung des Teams und die dichten Termine der 105 Drehtage sind in einer ansprechenden Ausstellung des Filmmuseums nachvollziehbar, wo außer Plänen und dicken Ordnern auch Sequenzen und Standbilder beider Filme nebeneinander betrachtet werden können. Sehr lesenswert hat Thomas Schadt in einem zum Film erschienenen Bildband und in seinem Buch über die Dramaturgie des Dokumentarfilms die Suche nach dem „authentischen Moment" beschrieben – dem Augenblick, in dem plötzlich alles stimmt: Für manche Bilder mußte er scheinbar absichtslos durch eine Gegend „schnüffeln", andere Einstellungen ließen sich wie „reife Äpfel vom Baum" pflücken, wieder anderen gingen lange Kämpfe und Zweifel voraus. Auch Walther Ruttmann beschreibt bereits ähnliche Erfahrungen: „Mit unerbittlicher Sprödigkeit versuchte die Stadt, sich der Unerbittlichkeit meines Objektives zu entziehen."

In einer Hinsicht enttäuscht der Film: Das „Gefühl des Augenblicks", das Schadt so oft gesucht und vielerorts gefunden hat, kann sich für den Betrachter kaum entfalten, weil das Orchester fast pausenlos bedeutungsschwanger dröhnt. Nicht die Lautstärke der Musik von Helmut Oehring und Iris ter Schiphorst befremdet, sondern vor allem ihr Pathos. Während hinter der sinfonischen Überhöhung von Massenproduktion und hektischem Getriebe bei Ruttmann noch die „futuristische Vision der Stadt im Maschinenrhythmus" stand, geht sie heute ins Leere. Eine einigende Vision gibt es nicht mehr – die Stadt ist weit und vielfältig, diese Aussage muß genügen. Einige der schönsten „stillen" Momente wirken am stärksten im Fotoband, doch auch auf der Leinwand gibt es sehr viele Details zu entdecken, für die sich der Kinobesuch lohnt.

Annette Zerpner

Der Film „Berlin. Sinfonie einer Großstadt" läuft gerade in Berliner Kinos an, die Ausstellung „Berlin – Sinfonien einer Großstadt" ist bis zum 30. Juni im Filmmuseum, Potsdamer Str. 2, Tiergarten, zu sehen.

Thomas Schadt: Berlin: Sinfonie einer Großstadt. Nicolai Verlag, Berlin 2002. 24,90 Euro

Thomas Schadt. Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 2002. 14,90 Euro

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