Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Tarifrunde 2004 auf dem ver.di-Steg?

ver.di und DotComs werden Fensternachbarn an der MediaSpree

Die Sonne spielt durch die Zweige, als ich die Wagenburg „Schwarzer Kanal" am Spreeufer an der Schillingbrücke in Mitte erreiche. Bunt bemalt stehen Bauwagen herum, dazwischen jonglierende Leute in Kapuzenpullis, Hunde und Kinder tollen herum. Ein alternatives Idyll, über dessen Klischeehaftigkeit ich lächeln muß. Zu einem solchen Idyll gehört auch die Bedrohung von Außen, und die kommt nicht von ungefähr: Bauen am Wasser ist in, und auch Berlin möchte seine Ufer aufwerten und krempelt daher die Spree zwischen Jannowitzbrücke und Ostkreuz kräftig um ­ MediaSpree heißt das Zauberwort. Realisiert wurden bereits die Universal-Music-Speicher sowie das Ibis-Hotel nebst Traumwohnungen, die gegenüber der Wagenburg um Käufer werben. Folgen werden das gigantische Anschutz-Projekt nebst Pop- und Eissporthalle, dem bereits zehn Clubs weichen mußten, sowie weitere Hotels, weitere Traumwohnungen und natürlich Büros, Büros und nochmals Büros, denn so ein Schreibtisch mit Wasserblick ist schon was feines. London hat es mit den Docklands vorgemacht, aber dort, so könnte man schadenfroh anmerken, wurde auch gleich ein Flughafen implementiert.

Der Versuch, die 20 Wagenburgler in dieses Konzept zu integrieren, ist nicht unternommen worden, mehr als eine Duldung war nicht drin. Die umstrittene Berliner Linie hängt wie ein Damoklesschwert über den Rollheimern. Nun hat sich ein Investor gefunden: Die neue Mega-Gewerkschaft ver.di, die in zwei Jahren aus den prestigeträchtigen, ihren Mitgliedern jedoch überteuert scheinenden Potsdamer Platz Arkaden hierher ziehen möchte ­ 25000 Quadratmeter Büros für die Interessen der Arbeitnehmer, „außerdem endlich ein für uns nutzbares Erdgeschoß, auch die Wasserlage ist für uns sehr reizvoll. 15000 weitere Quadratmeter stehen weiteren Mietern zur Verfügung," so ver.di-Projektleiter Hummel. Die Existenzberechtigung der Rollheimer will er nicht in Frage stellen ­ nur eben nicht auf seinem Grundstück, das „die optimale Kombination aus Lage und Kosten" darstellt ­ rund 76,5 Millionen Euro kostet das Projekt.

Im Sommer schon soll gebaggert werden, da kann man sich keine Sentimentalitäten erlauben. Das mußten auch die künstlerisch ambitionierten Wagenburg-ler erfahren, die mitten in den Proben für ihr neues Varieté-Programm mit Artistik und Akrobatik von der Installation einer Hinweistafel auf das neue ver.di-Projekt überrascht wurden. Die Bauherren wollen von den jetzigen Bewohnern des Grundstücks nichts gewußt haben ­ obwohl das Wohn- und Kulturprojekt seit zwölf Jahren besteht. Desinteresse? Angesichts der kategorischen Weigerung ver.dis, ihr naheliegendes leerstehendes Gebäude am Michaelkirchplatz 4 für ein von linksalternativen Initiativen gefordertes Soziales Zentrum zur Verfügung zu stellen, kann man getrost von Ignoranz sprechen. Den sozialen Anspruch, den man Gewerkschaften gemeinhin unterstellt, hat ver.di offensichtlich abgelegt und orientiert sich lieber gleich an den kubistischen Arbeitgeberpalästen in ihrer neuen Nachbarschaft.

Demnächst wird ein runder Tisch bei Bezirksbaustadträtin Dubrau stattfinden, dem die Rollheimer allerdings skeptisch entgegensehen. Micha von der eigens gegründeten Pressegruppe erklärt warum: „Nachdem wir von ver.dis Ankündigung überrumpelt worden sind, haben wir uns zweimal um Verhandlungen be-müht. Leider ist die Gegenseite auf keinen unserer Vorschläge für eine Koexistenz beider Nutzer, der Gewerkschaft und uns, eingegangen. Statt dessen bot man uns entfernte Ersatzstandorte an, die uns aus unseren Zusammenhängen hier reißen würden. Auch sind wir logistisch weniger mobil als beispielsweise die ´Laster und Hänger', deren neuer Standort ja auch nur einen befristeten Vertrag hat."

Die Nerven liegen blank – leider nicht nur wegen der neuen Varietéshow, die übrigens für alle Künstler offen ist. Es steht zu befürchten, daß eines der letzten Refugien alternativer Lebenskultur, die sich dem kapitalistischen Verwertungsprozeß entzieht, unter die Ketten der Bulldozer gerät. Die Sonne steht tief, als ich die Rollheimer verlasse, Micha hat ein kleines Mädchen auf dem Arm und winkt. „Die Bäume," sagt er „sind 12 Jahre alt. Wir haben sie damals gepflanzt. Gestern wurden sie ausgemessen."

Michael Welskopf

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 04 - 2002