Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die neue Mitte liegt links oben (IV)

Autohändler und Tumultanten in der nördlichen Luisenstadt

„Die schönste Straße auf der Luisenstadt ist unstreitig die Cöpnicker" stellt der Prediger Johann Friedrich Bachmann in seinem 1838 erschienenen Buch Die Luisenstadt ­ Versuch einer Geschichte derselben und ihrer Kirche unmißverständlich fest. Eine Behauptung, die nicht unmittelbar einleuchtet, wenn man heute den U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße verläßt und als erstes auf eine Art Zeltgestänge blickt, an dessen Strippen silbernes und blaumetallisches Lametta im Wind flattert. Die Firma „Marianne Automobile" gibt so zu erkennen, daß das einzige Fahrzeug auf dem Gelände tatsächlich zum Verkauf gedacht ist. Dahinter, in der Brückenstraße, sieht man noch Reste der alten Vorstadtbebauung. Von Vorstadtidylle ist hier aber nichts zu spüren, stattdessen ist es lärmig und stinkig ­ eben urban.

Ein Blick auf die frisch renovierten Plattenbauten in Richtung Moritzplatz verdeutlicht, daß hier von der alten Luisenstadt nicht mehr viel übrig ist. Ein amerikanischer Luftangriff machte die Gegend am 3. Februar 1945 dem Erdboden gleich. Es war bereits die zweite Zerstörung der Luisenstadt, nachdem 1641 der kurfürstliche Statthalter Graf von Schwarzenberg sämtliche Häuser der damaligen Cöllnischen Vorstadt niederbrennen ließ, um ein freies Schußfeld gegen vermeintlich heranrückende schwedische Truppen zu bekommen.

Folgt man der 1589 als „Neuer Damm" gegen die ständigen Überflutungen durch die Spree errichteten Köpenicker Straße stadtauswärts, finden sich außer den Neubauten der Heinrich-Heine-Siedlung das Heizkraftwerk Mitte, einzelne ältere Wohnhäuser, Autohändler auf unbebauten Grundstücken, Gewerbehöfe und Fabrikgebäude. Alles wirkt hier vorläufig. Man merkt dem Viertel an, daß es bis 1989 Ostberliner Grenzgebiet war und sich auch seitdem niemand so richtig dafür interessiert hat. Im Vergleich zum seit 1920 zu Kreuzberg zählenden Teil der Luisenstadt sind die Straßen geradezu menschenleer.

Dafür kann man noch allerlei Orte entdecken, die ihren Reiz genau dadurch gewinnen, daß man sie einfach in Ruhe ließ. Wenn man gegenüber des Victoriahofs, an der Warenauslage der Firma „Delphin's Automobile" vorbei in Richtung Spree geht, kommt man zu einem verwilderten leeren Fabrikgebäude, das man Anfang der neunziger Jahre vergessen hat zu besetzen. Links der Fabrik, vorbei an einem etwas nutzlos dort herumstehenden Mitropa-Waggon, gelangt man ans Spreeufer ­ eine Idylle, die zur Zeit noch den Anglern gehört.

Die vergessenen Orte an der Spree dürften aber in den nächsten Jahren nach und nach verschwinden. Ein paar hundert Meter flußaufwärts, direkt an der Schillingbrücke, will ver.di mit ihrer neuen Bundeszentrale dem Kiez ihren Stempel aufdrücken und die Wagenburg „Schwarzer Kanal" vertreiben. An der Schillingbrücke haben früher schon viel geringere Anlässe zu gewalttätigen Ausschreitungen geführt. Am 2. Juli 1863 griff eine erboste Menge im Gefolge der „Moritzplatzkrawalle" auf der damals in Privatbesitz befindlichen „Sechserbrükke" den Kassierer des Brückenzolls (in Höhe eines halben Groschens) an, um das Geld zu sparen, was ein Scharmützel mit der Polizei nach sich zog. Anlaß für die Moritzplatzkrawalle selbst, die einen Tag zuvor begonnen hatten und bis zum 4. Juli allabendlich die Luisenstadt in ein Schlachtfeld verwandelten, war die Zwangsräumung des Gastwirtes Schulze aus der Oranienstraße 64. Die konservative Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung bemerkte damals zu den Tumulten, die bürgerliche Profitwirtschaft provoziere geradezu Unruhe und prophezeite den „Anfang einer Revolution der Mieter gegen die Vermieter". Wofür es tat-sächlich immer wieder Anläufe gab. Um die Ecke, gegenüber der jetzigen Køpi, die sich seit ihrer Besetzung 1990 nicht ganz zu Unrecht für unverkaufbar erklärt hat, war die Kontakt- und Anlaufstelle der Mietstreikbewegung 1932. Widerstand hat hier Tradition.

Nicht ganz zufällig begann man im Revolutionsjahr 1848 mit dem Bau des Luisenstädtischen Kanals im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die dazu diente, die vielen Arbeitslosen der Stadt ruhig zu stellen. Das gelang aber erst nach der Niederschlagung eines Aufstands der Kanalarbeiter mit elf Toten und der anschließenden Verhängung des Ausnahmezustands. Auslöser waren wiederholte Lohnsenkungen sowie die Anschaffung einer Dampfmaschine, wodurch sich die Arbeiter in ihrer Existenz bedroht sahen. 1850 war der Kanal fertiggestellt und verlief von der Schillingbrücke im Viertelkreis zum Engelbecken und von dort schnurgerade zum Urbanhafen. In einer weiteren Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ließ man den Kanal 1926 bis 1929 wieder zuschütten. An seine Stelle traten Gartenanlagen, die man – von der als einziger Kanalbrücke noch erhaltenen Waldemarbrücke bis zur Adalbertstraße – inzwischen rekonstruiert hat. Die in den zwanziger Jahren eigentlich vorgesehene öffentliche Badeanstalt im Engelbecken scheiterte damals am Widerspruch der katholischen Kirchengemeinde St. Michael, die ihren Schäfchen nach dem Kirchgang den Anblick halbnackten, krakeelenden Volkes meinte ersparen zu müssen. Man mag sich damit trösten, daß die Badeanstalt die längste Zeit ihres Bestehens ohnehin nur den Grenzsoldaten zugänglich gewesen wäre, die im Engelbecken eine ihrer Zentralen hatten. Unterdessen hat man hier aber doch etwas Wasser hingekippt und einen Tümpel angelegt. Das Baden darin ist aber verboten.

Dirk Rudolph

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