Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Offener Brief der Initiative „Anders Arbeiten" zur Berliner Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und PDS

[...] Die rot-rote Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unterscheidet sich nicht von der unsozialen rot-grünen Politik auf Bundesebene. Ausgaben für Soziales sollen eingespart werden, und ein umfangreiches Instrumentarium zur Senkung der Sozialhilfe zur Anwendung kommen. Das Leitbild zur Arbeit: „Existenzsichernde Erwerbsarbeit ist eine wesentliche Grundlage unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Sie sichert den Einzelnen den eigenen Lebensunterhalt, schafft soziale Sicherheit und bestimmt gesellschaftliche Entwicklungschancen und soziale Anerkennung." Das klingt schön und gut, aber es entspricht doch schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität. Ein solches Leitbild ignoriert, daß diese „Existenzsichernde Erwerbsarbeit" nicht mehr für alle möglich ist und es auch in Zukunft nicht sein wird. Aus unserer Sicht wären neue Leitbilder erforderlich, die eine Vielfalt an Lebensentwürfen und -abschnitten, auch jenseits der Erwerbsarbeit, zulassen.

Untrennbar damit verbunden ist natürlich die Frage der Existenzsicherung, wenn die Erwerbsarbeit dies nicht mehr in ausreichendem Maße leisten kann. Wir treten für eine bedingungslose Grundsicherung in Form eines Existenzgeldes für alle ein. Dahinter steckt ein anderes Leitbild als das des Job-AQTIV-Gesetzes und auch des Prinzips „Fördern und Fordern" bei der Vermittlung von Sozialhilfeempfängern in dauerhafte Beschäftigung. Denn „Fördern und Fordern" läuft in letzter Konsequenz hinaus auf: „Nur wer arbeitet, soll essen" (auch wenn wir der SPD und PDS persönlich solche Überzeugungen nicht unterstellen wollen). Unser Leitbild lautet stattdessen: „Jeder Mensch hat von Geburt an ein unabdingbares Recht auf Existenzsicherung und Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Oberstes Ziel einer Gesellschaft soll es sein, dieses Recht für alle materiell zu gewährleisten."

Wir wissen natürlich, welch große Bedeutung Erwerbsarbeit für den überwiegenden Anteil der Bevölkerung heute hat und wie sehr die meisten Erwerbslosen unter ihrer Situation leiden. Insofern sehen wir durchaus Ansätze und guten Willen in der Vereinbarung. Sehr erstaunt sind wir allerdings, daß ein „Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor" (ÖBS) nicht einmal benannt ist. Warum hat sich die PDS so schnell von einem ihrer Lieblingskonzepte verabschiedet? Das ÖBS-Konzept sollte Beschäftigung mit soziokultureller und ökologischer Daseinsvorsorge verbinden und auf Nachhaltigkeit angelegt sein. In den geplanten „Beschäftigung schaffenden Infrastrukturmaßnahmen" (BSI) hingegen werden Menschen (wie in herkömmlichen ABM auch) untertariflich und befristet eingesetzt. Für die einen mag dies immerhin eine wichtige berufliche Erfahrung darstellen, für andere wird wertvolle Lebenszeit vergeudet, ohne daß sich an ihrer Berufsperspektive etwas verbessert. Nachhaltige Beschäftigung entsteht jedenfalls nicht. Sehr gefreut hat uns die geplante „Gründung von Stadtteil- und Produktivgenossenschaften". Wir hoffen sehr, daß damit endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die bisherige Benachteiligung dieser Form der selbstorganisierten Existenzsicherung aufheben. Dennoch ist es leider so, daß Menschen, die sich im Rahmen ihrer eigenen Genossenschaft ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis schaffen möchten, weder die sonst üblichen Lohnkostenzuschüsse bekommen, noch die Existenzgründungshilfen für Unternehmungsgründungen oder berufliche Selbständigkeit.

Aus aktuellem Anlaß möchten wir noch unser Befremden darüber äußern, daß Herr Sarrazin die von Sparmaßnahmen betroffene Bevölkerung verhöhnt (Stichwort: Jogginganzüge) und den schlimmen finanziellen Zustand dieser Stadt auf die mangelnde Leistungsbereitschaft der Berliner zurückführt, wo doch jeder weiß, einen wie großen Anteil ihrer finanziellen Probleme die Stadt der Ausplünderung durch die Bankgesellschaft verdankt. Aus unserer Sicht hat Sarrazin sich damit als Senator für diese Stadt und ihre Bevölkerung diskreditiert. Vielleicht kann die Koalition ihm im kollegialen „Profiling" eine Anpassungsqualifizierung anbieten, damit er lernt, mit den Problemen dieser Stadt angemessen umzugehen. [...]

Die Initiative „Anders Arbeiten" ist ein Zusammenschluß verschiedener Gruppen und Einzelpersonen, der sich aus der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses „Anders Arbeiten – oder gar nicht?!" im April 1999 in der Berliner Humboldt-Universität entwickelt hat. Das Anliegen des Kongresses war, die verschiedenen Ansätze des sog. „Dritten Sektors" aus den Bewegungen der Genossenschaften, der Selbstverwaltung und der Bürgerrechtler zusammenzuführen und Ausgestaltungsmöglichkeiten sozialer Ökonomie und Perspektiven selbstbestimmter Arbeit zu diskutieren. Es wurde ein „Frühlingspapier" verabschiedet, in dem u.a. Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur Förderung von selbstorganisiertem Leben und Arbeiten und von lokalem Wirtschaften für eine nachhaltige Entwicklung sowie zum Umbau des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors formuliert wurden. Initiative Anders Arbeiten, c/o Netzwerk Selbsthilfe, Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin, fon 6913072, internet: www.contraste.org/anders-arbeiten

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