Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die Genese des Wurstmenschen

An dieser Stelle endet die Kolumne „nachgefragt", die scheinschlag fast zehn Jahre lang begleitet hat. Von jetzt an wird von den erstaunlichen Erlebnissen des polnischen Wurstmenschen zu hören sein.

Der Wurstmensch kommt aus Polen. Man kann nicht behaupten, daß er dort geboren wurde, denn die Art und Weise, wie er auf die Welt kam, erinnert kaum an biologische Modalitäten der Säugervermehrung. Der Wurstmensch wurde zusammengebastelt. Und das ging so:

Vor einiger Zeit ­ alle waren mit der Jahrtausendwende beschäftigt und voller Sorge, wie viele Computer abstürzen würden ­ entging ein sehr interessantes wirtschaftliches Phänomen der europäischen Aufmerksamkeit. Dieses Phänomen trat in Polen auf, einem Land, das weltweit für seine Alkoholprodukte bekannt ist, das jedoch ­ was nur wenige wissen ­ auch hervorragende Wurstwaren erzeugt. Kaum jemand hatte bemerkt, daß in der Zeit vor der Silvesternacht, als alle gespannt den Weltuntergang erwarteten, Millionen von Bürgern statt in die sonst bei Katastrophen üblichen Mars- oder Snickersriegel nervös in polnische Bockwürste bissen. Obwohl die Leute seit Jahren mit Genuß Krakauer Wurst verzehrten, wurde die ungewöhnliche Popularität der polnischen Wurstwaren in Europa nicht wirklich wahrgenommen.

Viel aufmerksamer waren diesbezüglich die Haie der deutschen Fleischindustrie. Umgehend sorgten sie für die Abschottung der Grenzen gegen die polnische Wurst. Das wiederum führte zu einer sofortigen Rezession in Polen und stürzte Millionen von Menschen, die sich gerade zu Wurstmachern umschulen ließen, in Verzweiflung. Denn im Grunde war dies der einzige gut funktionierende Wirtschaftszweig in Polen gewesen. Die Arbeitslosenquote verdreifachte sich fast von einem Tag auf den anderen.

In dieser Situation erzeugte ein Metzgereiberieb, der am Rande des Bankrotts stand, den Wurstmenschen. Zuvor hatte der Betrieb ein Genetik- und Mikrobiologieinstitut beherbergt, dessen ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter lukrative Stellen als Fleischverarbeiter bekommen hatten. Der Wurstmensch war ein Geschöpf aus Wurst, das, mit einem Reisepaß ausgestattet, eigenständig die Grenze passieren konnte; und zwar allein, um unmittelbar danach, mit geringem Arbeitsaufwand des Metzgers, wieder in herrlich riechende polnische Wurst umgewandelt zu werden.

Wegen der Fahrlässigkeit gewisser Schnauzbartträger, kam es jedoch am Grenzübergang Kiebaskowo (was auf deutsch etwa soviel wie Würstestadt heißt) zu einem Zwischenfall, der die wohldurchdachten Pläne der Schmuggler durchkreuzte. Der Wurstmensch entfloh. Es gelang ihm, sich bis nach Berlin durchzuschlagen, wo er sich bei einer polnischen Organisation meldete, die seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebende Landsleute unterstützt. Der Polnische Dorfrat, so der Name der Organisation, nahm sich bereitwillig der Angelegenheit an.

Im kleinen Hinterhausbüro des Rats begannen die Fernschreiber zu hämmern, die Computer zu summen und die Telefone zu läuten. Man informierte die deutschen Behörden, die Politiker und die breite Öffentlichkeit über das polnische Wurstwesen. Parallel bemühte man sich, den Wurstmenschen als einen Flüchtling anerkennen zu lassen, das Asylverfahren wurde eingeleitet.

Die ungewöhnliche Sachlage rief jedoch ernste formal-rechtliche Schwierigkeiten hervor. Zuerst mußte man feststellen, ob das Geschöpf aus Wurst überhaupt menschlicher Natur sei. Doch gelang es den Experten nicht, eindeutig zu entscheiden, ob das Individuum der geltenden Definition des Homo sapiens ge-nügte. Dafür wurde dank der sachlichen, entschlossenen und konsequenten Parteinahme des Polnischen Dorfrates immerhin seine polnische Abstammung anerkannt.

Es hatte auch Stimmen gegeben, die für eine deutsche Abstammung des Wurstmenschen plädierten, weil in seinem Gewebe hiesige Konservierungsmittel auszumachen waren. Auf diese Weise hätte der Wurstmensch in die privilegierte Lage eines Aussiedlers gelangen können. Doch diese Vorschläge wurden als absurd zurückgewiesen.

Das mit Faszination durchsetzte Interesse für den neuen Menschentypus war anfangs so imponierend groß, daß die polnische Regierung mittels ihrer diplomatischen Vertretungen begann, den berühmten Bürger für sich zu beanspruchen. Diese Versuche mißlangen.

Für den Menschen aus Wurst begann das normale Leben.

Hermann

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