Ausgabe 04 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Vorsätzliche Geistesabwesenheit?

„Wenn demokratische Wahlen irgendeinen, dem noch nicht ganz politikverdrossenen Teil der Welt erkennbaren Sinn liefern sollen, dann müssen sich die gewählten Politiker, zumal wenn sie Regierungsmacht übernommen haben, auch im Sinne ihrer Wähler verhalten – und nicht im Sinne einer Gegenseite, vor deren publizistischer Macht sie womöglich Angst haben. Wenn ein, Projekten wie dem Podewil, den KunstWerken und dem Bethanien nach gängigen politischen Verständnis deutlich nahestehender Senat sich schlimmer benimmt als seine bürgerlichen Vorgänger, wird jede Stimmabgabe zur Farce. Die Besucher von Podewil, Bethanien und KunstWerke dürften zu einem weit höheren Anteil Ihre Wähler gewesen sein als die Besucher jener Theater, die jetzt ungeschoren davon kommen. Vergessen Sie Steglitz, kommen Sie dem Wählerauftrag nach!" (Diedrich Diederichsen in einem offenen Brief an Kultursenator Flierl Ende März 02).

Die Wogen in der experimentellen Kulturszene der Stadt schlagen derzeit hoch. Offene Statements wie das oben zitierte erreichen den Berliner Kultursenat reihenweise aus den verschiedensten befreundeten Netzwerken der betroffenen Institute. Und mitunter scheinen sie sogar beachtet zu werden ­ zumindest vorläufig.

Annähernd 20 Prozent Etatkürzungen bei den KunstWerken (KW) und Bethanien und über 80 Prozent beim Podewil hatte der Kultursenat geplant. Was im katastrophalen Gesamtberliner Haushalt wie ein Tropfen auf den heißen Stein aussieht, hätte für die drei betroffenen Häuser unverhältnismäßige Folgen gehabt.

In einer Rede im Kunsthaus Bethanien gestand Kultursenator Thomas Flierl jetzt ein, daß die geplanten Kürzungen bei den KW „offensichtlich falsch" gewesen seien. Für das Podewil kündigte er eine Korrektur an. Die Bühne soll erhalten bleiben, eine Umstrukturierung sei aber unausweichlich.

Für das Bethanien wird für den minimalen Konsolidierungseffekt, den hier eine Kürzung von ca. 90000 Euro für den Berliner Haushalt bedeuten würde, die Überlebensfähigkeit in Frage gestellt: Unzählige Projektpartnerschaften, wie z.B. das Media Arts Lab als Partner der Transmediale, sämtliche Osteuropa-Projekte mit Polen, Ungarn, Rußland, Slowenien sowie das erst 2001 eingerichtete Studioprogramm mit Budapest u.a. stehen auf dem Spiel.

Auch beim Podewil ist fraglich, ob die Umstrukturierung im Sinne des Kultursenats etwas anderes bedeuten würde als einen Betrieb im Sinne eines Veranstaltungsbüros. Angesichts solcher Ideen fragt man sich, woher unser Senat sein Kulturverständnis bezieht. Denn das Podewil unterhält neben einem umfangreichen artists-in-residence-Programm, mit denen es immer wieder für die Neuentdeckung mittlerweile anerkannter junger Künstler (u.a. Sasha Waltz, René Pollesch etc.) sorgte, unzählige Kooperationen im Bereich Theater, Performance, Live-Art, Musik, Tanz und Medienkunst. Insofern ist nur allzu gut verständlich, wenn dieser Tage in Neonlettern auf der Schautafel des Praters die Worte prangen: „PODEWIL RULES". René Pollesch, dessen stadtthematische Inszenierungsreihe seit Monaten Erfolge im Prater der Volksbühne feiert, erklärt auf einer Pressekonferenz im Podewil: „Konsequent wäre es für eine Politik, wie sie der Entschluß des Kultursenators zu signalisieren scheint, auch die Volksbühne oder wenigstens den Prater zu schließen! Was jetzt mal mein Vorschlag wäre!"

Christoph Tannert, Leiter des Bethanien, steht gegen Ende der Pressekonferenz auf, öffnet in wütend-hektischer Manier sein Hemd und wölbt der versammelten Mannschaft ein bedrucktes T-Shirt entgegen: „Vorsätzliche Geistesabwesenheit". Vorsätzliche Abwesenheit – wenn dies mit solchen Häusern passieren sollte, dann braucht auch der Kultursenat neue T-Shirts, garantiert im Tannert-Style.

Tina Kaiser

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