Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Waaahhhnsinn" bricht herein

Der „11. September" schüttelt eine Erzählung

von Ulrich Peltzer zurecht

Einem stirbt der Vater, er sitzt daneben und spricht zu, dann sind da Erinnerungen an Ausflüge südwärts ins Land der Zitronen, und die Deals zur Besserung der Einkommensverhältnisse neucöllnisch-cruxberger Bohemia platzen irgendwie ... Schließlich das Aufhalten in New Yorks City zur Archiv-Recherche mit schmalem Portfolio trotz Alimentierung, woraus sich zahlreiche kleinstkriminelle Einsprengsel begründen, das Klauen in toten Winkeln (und die Erkenntnis, wie die Stellung des Überwachungsspiegels im Lebensmittelladen die Ernährungsgewohnheit des Mundräubers bestimmen kann ...): Könnte ein beiläufiges Buch geworden sein, wäre da nicht das date 911, das dem Autor, schon wieder daheim an der Maschine sitzend, in den Text lappt. Das bricht herein, schüttelt das Textbäumchen zurecht und läßt sonst Verschlossenes ins Buch suppen: Wörter wie „waaahhhnsinn" klappern aus den transatlantischen Tasten einer Kathrin mit Geschehnisblick, daß es an Authentizität nur so rappelt in der Kiste ... Wie Peltzer diesen Durchblick läßt, ist ihm gleichwohl zu danken, markiert 911 doch den Umbruch von Selbstortung zum Gegenlauf des Faktischen im Text: Einstürze von Baugerüsten mit Todesfolge ein dreiviertel Jahr zuvor unweit des WTC laden sich auf, spielen Vorwegnahme ohne Aufdringlichkeit, eben Verkettung von Zuständen mit zufälliger Großsinnfolge.

Den Text am Stück zu lesen wäre als Empfehlung der Ammannschen Umverpackung beizulegen: Wie sonst wäre dem Schachteln von streams beizukommen, dem Überblenden von scene zu Szene ­ hier Neuyork im aufrechten Druck, dort die italic memories. Das Schwebende solcher Zusammenführungen durch Zeit und Raum verlangt den Zuseher mehr als den Leser, verlangt Vergeßlichkeit wie Detailversessenheit der Betrachtung. Es gilt dabei, nicht kleben zu bleiben an den frischen Farben von abgemalten stills, aus denen Bewegung ins Filmische sich erst allmählich ergibt: Manche Bilder erinnern an Großplakate am Kino International, ehe der Text ins Gleiten kommt, von Ereignissen auf die Spur gebracht, Bild und Ton zuweilen mit Aussetzern (dabei am Knall und Fall der Doppeltürme sich rejustierend). Peltzer gelingt die Parabel bereits im Titel: Bryant Park, für Openair-Filmvorführungen genutzter Stadtparkplatz vor der Public Library mit Rasenoberflächen, unter denen sich kilometerlang die Archivgänge winden. Peltzer koppelt das Erzählen an filmische Verfahren und befindet sich damit auf der technischen Höhe der klassischen Moderne, eines Erzählens also, das sich den Herausforderungen konkurrierender Darstellungsverfahren ebenso stellt wie der Fragilität von Subjektwürfen unter den Großleinwänden. Peltzer, bewaffnet mit eigener Erfahrung aus Filmvorführ-Nebentätigkeit an den Rollbergen, gelingt es, das Mechanische der Vorführung gegen die Projektionen im Naturtheater NYC zu blenden: Dies sind die Stärken des vorliegenden Textes.

Etwas anderes sind die Annotationen einer Kritik, die Bryant Park als „erste literarische Erzählung des 11.September" (FASoZ) zu verhökern suchen oder faseln: „Gäbe es noch eine Avantgarde, Ulrich Peltzer zählte zu ihr" (Freitag). Vielleicht sollte man den Werbespruch, demzufolge „bei Peltzer die wirklich aufregende Literatur der Gegenwart einsetzt" (FR), umformulieren in: Das Aufregende, geradezu Ärgerliche ist, daß solche Kritik einige Fähigkeiten, die Literatur zu entfalten schon seit längerem imstande ist, bei Peltzer wahrzunehmen sich bequemt, verstümmelt zum Ausdruck sogenannter Meisterschaft in sozusagen historischer Stunde. Daß allfällige Katastrophen die zeitlich befristete Erlaubnis zu formaler Abweichung in der Darstellung geben, ist indessen aus den Rezeptionsgeschichten des letzten Jahrhunderts hinlänglich bekannt. Auf der Homepage des titelgebenden Parks übrigens ruckelt derzeit als Laufschrift der Satz: „the lawn is closed today while the grass establishes roots ..."

Ralf B. Korte

Ulrich Peltzer: Bryant Park. Ammann Verlag, Zürich 2002. 19,90 Euro

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