Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Oskar Pastior

Offene Frage –

: ob eine Struktur sich lesend wahrnimmt, also hervorbringt, also irgendwie selber Bewußtsein erlangt (Text wird);

: ob demnach das organische Leben, das Sinn produziert, bloß deshalb, weil es Sinn produziert, besser ist als das Nicht-Leben, das keinen Sinn produziert;

: ob es vernünftig ist, daß das Sinn produzierende Leben (also ein Text, der sich lesend schreibt) sich im Resultat des Vorgangs schön findet;

: ob es gut ist, daß der Text (das Leben) es vernünftig Þndet, daß er etwas schön finden kann;

:ob eine Struktur, die sich als unvorhersehbar erkennt (wie jede gute Poesie), sich überhaupt fragen darf, wohin sie nächstens führt, beziehungsweise ob sie gut und schön und sinnvoll ist, wenn sie sich eine Zweckgerichtetheit (Finalität, Teleologie) anmaßt, einräumt, an den Hut steckt, in der sie selber sich bereits zum Überlebtsein innerhalb einer von ihr gedachten Evolution degradiert;

: ob die Fähigkeit des Lebens (des Textes), solche Fragen zu stellen, die es nicht beantworten kann (hoffentlich), eine Frage seiner eigenen Grammatik und Spielregeln an deren Berechtigung ­ oder an deren Effektivität? ­ ist;

: ob Entscheidungsfragen (also solche, die mit Ja oder Nein beantwortet werden müssen) überhaupt sinnvoll oder schön oder gut sein können ­ wenn doch nur die echten Fragen imstande sind, offen zu bleiben ­ wofür? für wen?

Text –

Text hat weniger Text als zusammen mit einem Leser. Text hat auch mehr Texte als Leser. Text hat aber auch mehr Text als Texte und weniger Leser als ohne einen Leser ­ diese Ungenauigkeit, und immer im Falschen Moment. Denn wenn der Text aber mehr oder weniger hat oder ist, ist er doch auch vieles womit er nicht zu tun hat. Den Falschen Moment kann er sich, obzwar er mehr Text als Leser ist und mehr Text als Texte hat, nicht aussuchen. Zwischen ihm und seinen Texten und zwischen (s)einem Leser und ihm passiert ja mehr Text als im Falschen Moment ­ das zumindest ist weniger Zwischenfall mit Debakel als Chance ohne richtigen Text. Punktuell wird der Text von seinen Texten zugeschweißt, versiegelt. Punktuell wird Text zu keinem Text. Im Kopf der Leser ist er anderswo als der Kopf der Leser, den besagten Moment lang. In dem auch sonst unheimlich viel passiert d.h. genau so nicht.

Hat und ist weil das an ihn Gelegte in ihm nicht aufgeht, weil er im Angelegten anders aufgeht als im Nichtangelegten, weil er wenn das Anlegen und das Nichtdrinaufgehen zum Angelegten werden plötzlich wieder ­ Schrecken! ­ über eine Poetologie verfügt, die weniger die seine ist als eine eines seiner Texte oder eines Lesers ohne ihn.

... Text, Text! ... Entwaffnend bitte sei er also bis zur Entblödung, kurzum politisch erzieherisch; gespreizt, kurzum erotisch; auf einem anderen Blatt stehend, also zugehörig; unter die Haut gehend, also heutig oder dermatologisch entblößt; dabei nichts als ein Privatbrief, du weißt schon, also verkrakelt bis dorthinaus; und desgleichen mehr.

Text hat weniger Text als zusammen mit einem Leser. Sein Geheimnis. Text hat es nicht nötig, gut oder Text zu sein. Seine Unnötigkeit. Er braucht natürlich andere Texte. Das ist seine Moral. Er verliert auch niemals keine dummen Wörter. Das ist sein Mißverständnis.

WAS ABER IST DIE ÜBERSETZBARKEIT? SIE IST EINLEUCHTEND. Sie ist so einleuchtend, daß der Fuhrmann sie dem jüngsten Sohn abnimmt und ohne Schwierigkeit durchs zwanzigste Jahrhundert vehikuliert. Sie ist ein Hoffnungsschimmer, den Worte an sich haben, die Politik machen, indem sie ihr heimleuchten. Der Kürbis wird von innen erhellt, eine Fuhre Illumination. Wir erweisen Denkanstößen die Reverenz, indem wir sie antößig übersetzen.

Die Collage zitiert Fragmente eines Briefes an Bernard Noël (1995), eines Textes für Walter Höllerer (1987) und in Gänze ein Höricht (1975).

Oskar Pastior, geb. 1927, lebt in Berlin. 2000 ist sein jüngster Gedichtband „Villanella & Pantum" bei Hanser erschienen.

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