Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ästhetik des Widerstands

Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nehmen ihre Textvorlagen ernst

Literaturverfilmungen sind meistens zum Kotzen. Da wird aus dickleibigen Romanen ein simpler Story-Kern geplündert und mit Dialogen in Szene gesetzt, die dem Autor, der sich oft gar nicht mehr wehren kann, die Schamesröte ins Gesicht treiben würden; oder es werden mit aller Gewalt Situationen bebildert, die der Text bewußt und mit gutem Grund im Ungefähren beläßt, bloß andeutet. Das Lebenswerk Volker Schlöndorffs allein reichte aus, um Literaturverfilmungen zu hassen. Doch schlimmer geht immer: In den Niederungen der Kulturindustrie werden Bücher häufig erst zu den fertigen Filmen erstellt, um den kleinen Markt der literaten Kinogänger nebenbei auch noch abzuschöpfen.

Es geht auch anders: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet machen seit vier Jahrzehnten, abseits des Marktes und unter zunehmend schwierigeren Bedingungen Filme, die auch allesamt auf große Stoffe der Literaturgeschichte zurückgehen. „Es ist nicht recht, so viel Engagement und Einsatz von den Schauspielern zu fordern, wenn es sich um eine ephemere oder uninteressante Sache handelt", so Jean-Marie Straub in einem Interview, „das ist der Grund, warum ich von der Literatur ausgehe." So haben die „Straubs", wie sie von ihren Anhängern, einer seltsamen Cinéasten-Species, genannt werden, Hölderlins Empedokles, Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron oder Kafkas Amerika-Roman – nun, verfilmt kann man eigentlich nicht sagen; denn Straub/Huillet nehmen die Texte, mit denen sie arbeiten, ernst und stellen sie in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung.

So auch in ihrem jüngsten Film Operai, Contadini (Arbeiter, Bauern), der letzte Woche erstmals in Berlin gezeigt wurde – nach Sicilia! von 1998 die zweite Auseinadersetzung mit einem Roman des italienischen Schriftstellers Elio Vittorini. Der 1908 geborene Vittorini, Widerstandskämpfer im Faschismus, wurde 1941 mit seinem bald verbotenen Roman Conversazione in Sicilia bekannt, der Straub/Huillet als Grundlage ihres Sicilia!-Films diente. Vittorinis Roman Le donne di Messina, dem der neue Film Dialoge und Konstellationen entnimmt, ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelt. Vittorini erzählt von einer Gruppe von Männern und Frauen, die versuchen, in einem verlassenen Dorf im Apennin aus den Trümmern ein neues Leben aufzubauen. In der Mitte des knapp 300seitigen Romans hält das Geschehen inne, und an dieser Stelle setzt Operai, Contadini ein. Jean-Marie Straub und Danièle Huillet haben diese Fermata, die Kapitel 44 bis 47 des Romans, in der die Protagonisten ihre Geschichten erzählen und sich über sich verständigen, in einem zweistündigen Film umgesetzt. In scharfem Kontrast zum Winter, der in dem Text beschworen wird, haben sie ihre Darsteller in einem frühlingshaft blühenden Tal in der Toskana placiert. Straub/Huillet haben wieder mit Laiendarstellern aus Buti in der Toskana gearbeitet. Während es in Sicilia! aber noch eine ganze Reihe von Schauplätzen gab, konzentriert sich hier alles auf das Tal, in dem die Darsteller stehen oder sitzen, ihren Text sprechen oder ablesen. Eine Literaturverfilmung, wie sie puristischer nicht zu denken ist, ganz getragen von Vittorinis Text, der sich in der Rede der zwölf Protagonisten zu einem musikalischen Gewebe verdichtet. Kontroversen zwischen den Arbeitern und den Bauern, Feindschaften, Liebschaften, auch die Schatten der jüngsten faschistischen Vergangenheit kommen ins Spiel – der ganze „menschliche Wahnsinn", wie Straub sagt.

Operai, Contadini ist ein Film, der sich allen Trends entgegenstellt, der sich Zeit nimmt und einem Text konzentriert nachspürt. „Es gibt keine Ästhetik, wenn es keine Ästhetik des Widerstandes ist", sagt Jean-Marie Straub.

Florian Neuner

Wann „Operai, Contadini" wieder einmal irgendwo zu sehen ist, wissen wir nicht. Im Lichtblick Kino, Kastanienallee 77, wird vom 30. März bis 3. April täglich um 18 Uhr Straub-Huillets Kafka-Film „Klassenverhältnisse" gezeigt.

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