Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Großes verwittertes Wohnzimmer

Irina Liebmanns Mitte-Fotografien aus den achtziger Jahren

„Eine Rumpelkammer mit Möbelstücken der Weltstadt Berlin" waren die Straßen in der Spandauer und Rosenthaler Vorstadt vor 20 Jahren für die junge Schriftstellerin Irina Liebmann: „Ein ganzes, großes Wohnzimmer verwitterte da und verstaubte." Diese Unordnung, durch die bruchstückhaft und deutlich wie nirgendwo sonst in der Hauptstadt der DDR Vergangenheit zu Tage trat, faszinierte sie. Für ein Romanprojekt über die Geschichte der Großen Hamburger Straße interviewte sie alte Anwohner, grub in Archiven und machte als Gedächtnisstütze eine Reihe von Fotos. Das Material wurde zur Last, den Roman hat sie nie begonnen, doch die Aufnahmen dokumentieren heute gleich zwei Vergangenheitsschichten: das stille, vor sich hin bröckelnde Quartier in den achtziger Jahren und die noch erkennbaren Spuren des Lebens vor dem Krieg. Die Bilder stellt jetzt die Kunststiftung Poll aus, in einem Fotoband hat Irina Liebmann auch ihre Recherche beschrieben.

Das Motiv der Einladungskarte zur Ausstellungseröffnung registriert der Betrachter vielleicht gar nicht mehr als zeitlich entfernt: In verblaßten Tönen ist ein karg dekoriertes Spielwaren- und Fotogeschäft zu sehen. So kündigt man in Mitte seit einiger Zeit gern und beliebig die Eröffnung eines Clubs oder eine Kunstaktion an. Die anderen Fotos von Irina Liebmann sind nicht so leicht zu vereinnahmen – überwiegend graue Ansichten eines aufgegebenen Stadtteils mit vernagelten Fenstern, abblätternden Fassaden, Verschlägen, Trümmergrundstücken, leeren Flächen. Für Zugezogene eine ungewohnte Perspektive: die vertrauten Ecken ohne Läden und Cafés, dafür fast menschenleer. Diese Schnappschüsse sind allerdings erst durch den historischen Bruch ansehenswert geworden. Architektonisch interessante Details – stillgelegte Fahrstühle, Portiersklingeln, Mosaike, Ornamente, Fliesen, Geschäftsschilder, Namen auf Brandmauern – nennt Irina Liebmann, hat sie aber nicht fotografisch festgehalten. Um so eindrücklicher schildert ihr Essay eine historische Spurensuche, die sie fesselte und bald auch bedrückte. Oberflächlich erschien das Quartier von seiner Vergangenheit abgeschnitten und kam in der offiziellen Geschichte nicht vor. 1980 war es jedoch noch möglich, das fehlende „Verbindungsstück" zur Vergangenheit durch mündliche Überlieferung zu überbrücken. Die Schriftstellerin leistete Pionierarbeit. Vor allem alte Frauen erinnerten sich an einen bescheidenen Alltag, an Läden und ihre Besitzer, Kieztratsch über längst Verstorbene oder in den Westen Geflüchtete, Streitigkeiten. Es gab unverblümte Kommentare über die sozialistische Gegenwart – „Wir wüßten gar nicht, was es alles Schönes auf der Welt gäbe, wie herrlich sie alle früher sich gekleidet und vergnügt hätten und wie phantastisch es in Berlin einmal zugegangen sei ..."; beim zweiten Besuch dann verschlossene Türen, wenn Leute zur Zeit nach 1933 und zu jüdischen Nachbarn befragt worden waren. Diese Verbindung mit der Vergangenheit ist abgerissen, durch den Tod der Zeitzeugen und indem man das Wohnzimmer wieder zur guten Stube gemacht hat.

Annette Zerpner

Irina Liebmann: „Stille Mitte von Berlin". Eine Recherche rund um den Hackeschen Markt. Nicolai-Verlag, Berlin 2002, 19,90 Euro. Die Fotos sind noch bis zum 20. April in der Kunststiftung Poll, Gipsstr. 3, in Mitte zu sehen. Di-Fr 15-18 Uhr und Sa 12-18 Uhr.
Gerade neu aufgelegt wurde auch ihr Buch, die literarische Reportage „Berliner Mietshaus", Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2001, 8,90 Euro.

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