Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Verhärmt mit erstem Wohlstandsbauch

Berlin 1953 bis 1960 in Fotografien

Ein gemeinsames Charakteristikum teilen alle Aufnahmen von Arno Fischer: die perfekte Balance des fotografierten Augenblicks. Man sieht eine Holzbank in der S-Bahn, am einen Ende knieen drei Kinder wie die Orgelpfeifen und gucken aus dem Fenster; am anderen sitzt als Gegengewicht ein Mann versunken hinter seiner Zeitung. Oder: Ein Junge rollt hüpfend einen Autoreifen an einem Trümmergrundstück vorbei. Ihm kommt eilig mit steifen Schritten ein Mann entgegen, ein schmales helles Holzstück schräg in der Hand, als wolle er den Reifen anstoßen. Die Beinpositionen der beiden korrespondieren jeweils mit ihrem Gegenstand. Fischers leise, unspektakuläre Alltagsaufnahmen aus den Jahren zwischen 1953 und 1960 zeigen die Berliner in einer zerbombten Stadt, deren Ost- und Westteil sich langsam auseinanderentwickeln. Wie Zugvögel sitzen sie auf Zäunen und Mauern, stehen Schlange zwischen Schutthaufen, blicken verhärmt oder schon wieder selbstbewußt, mit leichtem Wohlstandsbauch und Naht-Nylons, auf Paraden und neue Vergnügungsangebote. Propagandaplakate und Fahnenträger, die ersten Leuchtreklamen und dicken Autos vervollständigen die Szenerie. Freude herrscht allerdings selten, stattdessen wirken die Menschen oft wie Figuren eines Brettspiels und stehen beziehungslos und stumm beieinander.

Neben visueller Befriedigung bietet ein gutes Foto immer auch unergründliche Geschichten: Da sitzt ein alter Mann mit rundem Rücken so zivilisiert im Café über der Zeitung und der Flasche Bier, daß es auch 1930 sein könnte, in einer anderen Epoche und einer unversehrten Stadt. Das Gegenbild sind ältere Arbeiter im Blaumann, die in der Kantine hastig ihre Klappstulle essen – neue sozialistische Menschen? An einer anderen Stelle fällt ein soldatisch gerade durchgedrückter Männerrücken auf. Der Besitzer hat markante Züge, trägt einen Schlips und betrachtet aus der dritten Reihe einen Autokorso. „Woher kommt seine Haltung, was hat er zwanzig Jahre vorher gemacht?" fragt sich der heutige Betrachter. Auf den Gesichtern eines älteren Ehepaars, im Bus aus der Froschperspektive aufgenommen, kann man Resignation, aber auch Selbstgerechtigkeit lesen. Was überwiegt, was hat sie geprägt? Am leichtesten versteht man die Gesichter der „Halbstarken" und der vielen Kinder. Sie scheinen so herausfordernd oder zutraulich zu blicken wie zu anderen Zeiten auch. Drei der bekanntesten, symbolisch am stärksten aufgeladenen Bilder von Arno Fischer zeigen Fassaden und Fenster: Da ist der steinerne Adler mit dem abbröckelnden Hakenkreuz in den Krallen, auf dem Sims schräg drüber sitzt winzig eine Taube. Dann die „Generationen-Fenster" – im rechten die Alten mit Knebeljoppe, Hindenburg-Bart und hochgeschlossenem Kleid, im linken die Jungen mit kurzem Lockenkopf und Windjacke. Sie warten auf etwas, das die Straße heraufzieht. Und natürlich fehlt der berühmte „Riß in der Mauer" nicht: Eine bildfüllende Ziegelmauer, jemand hat provisorisch ein neues kleines Fenster eingebaut, durch das ein Mann hinaussieht. Ein Riß läuft der Länge nach hinunter, scheint auch das Fenster zu teilen. Daß derartiger Symbolismus in der Zeit des Mauerbaus schlecht geÞel, wundert nicht. Eigentlich sollten die Berlin-Arbeiten von Arno Fischer im Herbst 1961 unter dem Titel „Situation Berlin" herauskommen. Mit anti-westlichen Texten wurden die Fotos zu einem Collagenbuch zusammengestellt. Unmittelbar nach dem Bau der Mauer entschied die staatliche Zensur jedoch, es gebe keine „Situation Berlin". Damit war das Projekt gestorben, Fischer wandte sich anderen Themen zu. Erst der neu konzipierte Band aus dem letzten Jahr greift den Titel wieder auf und veröffentlicht die meisterhaften Fotografien teilweise zum ersten Mal. Sehr empfehlenswert!

Annette Zerpner

Arno Fischer: Situation Berlin. Fotografien 1953-1960. Nicolai Verlag, Berlin 2001. 29,90 Euro.

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