Ausgabe 03 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wie sollen wir leben?

Manche Fragen stellen sich immer wieder, wie zum Beispiel die obige. Jede Generation wird auf diese Frage eine neue Antwort finden, und den Beitrag meiner Generation möchte ich hier einmal kurz vorstellen. Es ist ein politischer Lebensentwurf, geprägt vom Kampf gegen das kapitalistische System, gegen die Leistungsgesellschaft, die Ausbeutung und das, was der Amerikaner „rat race" (Rattenrennen) nennt. Ein Lebensentwurf, in dessen Mittelpunkt „die Meditationsmaschine" steht, wie Herr Enzensberger den Fernseher einmal so treffend genannt hat.

Der Frührentner als Lebensideal: Auf dem Sofa liegen, fernsehen: Mittagsmagazin. Der schwule Florist, der seine häßlichen Arrangements mit dem Elektrotacker zusammennagelt, der schwäbische Koch, Gemütlichkeit und Fett verspritzend. Die Anrufer aus Thüringen, ganz einfache Leute, die ein Kaffee-Service gewonnen haben.

Seit zwei Stunden keine Veränderung der Nachrichtenlage. Auf allen Kanälen. Tokio schließt fester. Ein Börsenexperte (zehn Jahre jünger!) hält die Arbeitslosigkeit für ein gutes Zeichen. Umschalten, abschalten, ausschalten. Nicht den Blick für das Wesentliche verlieren. Den Müll runterbringen, einkaufen, abwaschen.

Das Radio ausschalten: Ruhe jetzt. Mal überlegen: Was essen vielleicht. Brot. Jeden Tag Brot. Oder man kocht sich was. Oder man geht weg. So viel Auswahl gibt es nicht. Nicht kochen, jetzt, kein Brot. ­ Ein Bier? Wenn man ein Buch lesen könnte, hätte man wenigstens die Zeit sinnvoll verbracht, aber ich kann mich einfach nicht konzentrieren.

Möglichkeiten gibt es viele (auch ohne Geld): auf der Straße Freunde treffen, im Park die erste Frühlingssonne tanken, durch die Straßen flanier'n, Goethe zitier'n, Kunst produzier'n. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / durch des Frühlings holden, belebenden Blick." Man hatte immer so viele Pläne.

Morgen vielleicht, heute lohnt es sich nicht mehr.

Daß das Fernsehprogramm in den letzten Jahren so viel schlechter geworden ist, daß man beinah gezwungen ist, sich Premiere zu kaufen ­ wenn man mal nachmittags fernsehen will ­ und dann kann man sich's nicht leisten; das wird auch viel zu wenig angeprangert. Was ist eigentlich aus meiner alten Forderung geworden: „Jedem Arbeitslosen ein Premiere-Abonnement"? ­ Hallo!: Kämpft da noch einer für? Damit wäre doch allen geholfen.

Dies ist mein Leben. Das hab' ich mir so ausgesucht. Ich wollte nicht mitmachen bei dem ganzen Scheiß, den verlogenen Rüstungsexporten und all dem, wo es nur um den Profit geht, nein danke. Ohne mich.

Doktor Seltsam hat einmal gesagt: „Es ist leicht, nicht käuflich zu sein, wenn einen keiner kaufen will." Das war ein Scherz, aber sprach daraus nicht auch eine gewisse Bitterkeit? Eine Enttäuschung, die ich mir gern ersparen möchte. „Am besten, man versucht es gar nicht erst", sagt Homer Simpson zu seinem Sohn Bart, und ich glaube, er hat recht.

So wollen wir leben. Wir wollen uns alle Möglichkeiten offenhalten. Wir sparen unsere Kraft. „Wer morgens länger schläft, hält's abends länger aus."

Gibt es denn kein Recht auf Faulheit? Müßiggang: dies schöne Wort, und aller Laster Anfang. All das, das Lasterhafte: macht doch Spaß.

Dies ist das radikale Frührentner-Leben, vielleicht eine spezifisch Berliner Erfindung. Es läßt sich leicht beschreiben und auch das Ende ist heut schon bekannt.

Der politische Frührentner wird dem Frührentner immer ähnlicher, Verwahrlosung oder Putzwahn und irgendwann kommt Verwesungsgeruch aus seiner Wohnung, und die Feuerwehr findet mich vor dem Fernsehgerät ­ teilweise mumifiziert.

Hans Duschke

Bov Bjerg meint burschikos, daß er nichts auf der Pfanne hat.

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