Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ärztliche Versorgung, aber sicher

Finanzierungen für karitative Einrichtungen hängen heute schon mal von ABM ab ­ oder vom Glücksspiel

Ärztliche Versorgung ist für die meisten Leute eine Selbstverständlichkeit – Schwierigkeiten entstehen höchstens, wenn die Plastikkarte zu Hause vergessen wurde. Was aber, wenn ein Kranker nicht versichert ist? Zwar sollte bei mittellosen Menschen das Sozialamt die Versicherung übernehmen, doch auch Leistungen vom Sozialamt sind an Auflagen gebunden. Wer hier registriert werden will, braucht einen Ausweis und eine Adresse. Die hat nicht jeder. Zum Zeitpunkt der letzten Erhebung waren dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales 6500 Personen als wohnungslos bekannt – wobei hier nur zeitweilige Nutzer von Obdachlosenpensionen gemeldet werden. Menschen, die ausschließlich auf der Straße leben, tauchen in der Statistik gar nicht erst auf.

Jenny de la Torre betreibt eine Arztpraxis für diese Klientel, die durch sämtliche Raster der Ämter fällt. Sie liegt am Stralauer Platz, direkt gegenüber dem Ostbahnhof. Die Behandlung läuft unbürokratisch und zum Teil anonym. Auf die übliche Wartezimmerprozedur mit Terminen und Vorsprechen an der Rezeption wird verzichtet, und die meisten Fälle behandelt die Ärztin ambulant. Außerdem versucht sie, ihre Patienten wieder in die reguläre medizinische Versorgung zu bringen, darüber aufzuklären, daß Anspruch auf Sozialhilfe besteht und leitet gegebenenfalls weitere Schritte in die Wege. „Das ist gar nicht so einfach", erzählt die Ärztin. „Einige Leute haben keine Personaldokumente mehr, weil sie verloren oder gestohlen wurden. Manchmal muß man dann eine Geburtsurkunde wiederbeschaffen, von jemandem, der vielleicht aus Bayern kommt."

Neben der medizinischen Behandlung bietet die Anlaufstelle am Stralauer Platz ein kostenloses Duschbad, bei Bedarf einen Kleiderwechsel aus den Beständen einer angegliederten Kleiderkammer. Seit kurzem gibt es sogar eine Suppenküche. Die Erfahrung habe gezeigt, meint de la Torre, daß es günstig ist, wenn verschiedene Dienstleistungen an einem Ort versammelt seien ­ die Leute nicht von Pankow nach Mitte und wieder zurückreisen müßten, um zu essen, zu duschen und zum Arzt zu gehen.

Die 46jährige hat keinen einfachen Job. Sie ist mit Krankheiten wie Schleppe und Scabies konfrontiert, mit offenen Beinen oder Leberzirrhose. Viele, die kommen, sind betrunken, manche sind verlaust. „Man muß den Patienten Respekt entgegenbringen", erzählt sie, „darf keine Elefantenhaut bekommen, aber auch auf keinen Fall ein Helfersyndrom."

Ihr Überleben sichert die Einrichtung jenseits der üblichen öffentlichen Träger der Gesundheitsversorgung. Während eine ältere Obdachlosenpraxis am Bahnhof Zoo von der Caritas getragen wird, startete die Praxis am Ostbahnhof vor sieben Jahren als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit „LKZ"-Stellen. Ihre wenigen versicherten Patienten kann de la Torre bei der Kasse abrechnen, zu einem geringeren Satz als üblich. Als nachteilig erwies sich, daß die Stellen für die Ärztin und zwei Schwestern jedes Jahr neu beantragt werden mußten und im letzten Jahr ganz ausliefen. Seither gelingt eine Mischfinanzierung aus Spenden und anderen Zuwendungen – alle Mittel sind jedoch zeitlich begrenzt und müssen stets von neuem akquiriert werden. Derzeit ist der Bestand der Praxis nicht unmittelbar gefährdet. Doch erst kürzlich mißlang zum Beispiel der Versuch, Gelder von der Deutschen Lottogesellschaft zu bekommen, eine Finanzquelle, mit der de la Torre eigentlich gerechnet hatte. Bleibt die Frage, ob Krankenversorgung derart vom Glücksspiel abhängen sollte.

Tina Veihelmann

Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof, Stralauer Platz 32: Mo, Di, Do 8 bis 15.30 Uhr, Mi 12 bis 15 Uhr, Fr 8 bis 13 Uhr

Suppenküche: Mo bis Fr: 8 bis 17 Uhr

Obdachlosenpraxis am Zoo,

Jebenstr. 3: Mo, Di, Fr 10 bis 12 Uhr, Mi 13 bis 17 Uhr, Do 13 bis 17 Uhr

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