Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Stimmenimitator

Texte & ReMixes on Demand

Lyrikbände, die nie vergriffen sind – diese Versprechung macht uns die „Lyrikedition 2000", als deren Herausgeber der umtriebige Göttinger Literaturprofessor Heinz Ludwig Arnold firmiert. Die Bände werden als sogenannte „Books on Demand" gedruckt. Dem Rezensenten droht der Verlag deshalb an, sein Rezensionsexemplar in Rechnung zu stellen, falls der ihm keine Besprechung zukommen lasse, „da es sich bei diesem Titel um ein Book on Demand handelt, das nur auf Bestellung gedruckt wird." Ich gestehe, dieser Logik nicht ganz folgen zu können und möchte auf das Bändchen des sich Crauss nennenden Siegener Lyrikers auch nicht nur deshalb hinweisen, um die aus München drohende Rechnung abzuwehren.

Der Klappentext rühmt den 1971 geborenen Autor als Vortragskünstler. Ich habe ihn nie gehört und kann zu diesem Aspekt seiner Arbeit nichts sagen. Mit den modischen Slampoeten, Leuten wie Bastian Böttcher oder Björn Kuhligk, dem er sogar ein Gedicht widmet, und die Lyrik auf dem Niveau mittelmäßiger Songtexte in die Welt brüllen, hat Crauss freilich nichts gemein: Seine Gedichte sind wesentlich besser. Man sollte sich denn auch nicht vom Titel des Buches abschrecken lassen: Crausstrophobie ist doch sehr bemüht-originell, auch wenn er auf alles mögliche anspielt; u.a. auf „klaustrophobie strophe katastrophe", wie Crauss uns in einem Glossar aufklärt. Diesem Glossar kann der Leser auch entnehmen, daß Crauss in seinen Gedichten Texte von Klopstock und Hölderlin bis hin zu Friederike Mayröcker oder Ralf B. Korte verwurstet bzw. sampelt, wie er sagen würde. Analogien zwischen elektronischer Musik, dem Handwerk der DJs, mit denen in der postmodernen Kulturindustrie das totgeglaubte Autorsubjekt noch einmal wiederkehren darf, und Literatur sind in den letzten Jahren überstrapaziert worden; man muß nicht immer gleich an Sampels und Videoclips erinnern, wenn ein Text mehr als nur eine Ebene hat. Crauss ist nun allerdings ein Autor, der solche Verfahren in seinem Schreiben wirklich technisch produktiv macht. Wenn er seine „ReMixes" als „übertragung audiovisueller verfahren auf literatur" beschreibt, dann geschieht das durchaus mit Berechtigung.

Crauss ist ein Stimmenimitator. Von der Weiterdichtung eines Mayröckerschen Gedichtzyklus' bis zur Verarbeitung eines Laurie-Anderson-Songs oder einem Epitaph für den im Iran ermordeten Schriftsteller Mohammad Mochtari ­ vielfältig sind die Themen und Tonlagen auf diesen knapp 80 Seiten. Keineswegs aber wird nur auf Teufel komm raus gesampelt in diesem Bändchen; es finden sich auch sparsame Skizzen, gar Haikus. Ein häufiger Topos in den gekonnt Atmosphärisches festhaltenden Texten ist Berlin. Wie mittlerweile jeder Reiseführer führt Crauss uns ins unvermeidliche Kaffee Burger; aber auch dem inzwischen untergegangenen Kreuzberger Schwulentreffpunkt Café Anal wird ein Denkmal gesetzt. In dem Zyklus „Auf dem See" schließlich kann man unmittelbar erleben, wie ein Text mehrfach „remixed" wird und was ihm dabei widerfährt. Der Band besticht gerade in seiner Disparatheit; vieles wird riskiert, und es ist da kein glattes Gelingen.

Peter Stirner

Crauss: Crausstrophobie. Texte & ReMixes. Buch & medi@, München 2001. 9,50 Euro

www.lyrikedition.de

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