Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Durch Nicht-Komponieren ändert man auch nichts

Musik und politisches Engagement: Florian Neuner im Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn

Foto: Mathias Königschulte

„Im Innern des autonomen Kunstwerks spielt sich Politik ab."

Die Zeiten, da Künstler sich Gedanken über die politischen Implikationen ihres Tuns machten, sind lange vorbei. Dennoch oder vielmehr gerade deshalb soll die unzeitgemäße Frage nach Kunst und politischem Engagement im scheinschlag umfassend aufbereitet werden. Den Auftakt bildet ein Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, die seit 1977 in der Münchner edition text+kritik die Zeitschrift Musik-Konzepte herausgeben. In diesen Tagen erscheint die Nr. 115: Max Reger. Zum Orgelwerk.

Neuner: Es gab einmal eine Zeit, das liegt jetzt schon 30 Jahre zurück, da gehörte es in Westdeutschland zum guten Ton, als Komponist einen mehr oder weniger reflektierten marxistischen Standpunkt zu vertreten. Henze ist mit roter Fahne aufgetreten, es wurde viel revolutionäres Schrifttum vertont. Du bist damals als scharfer Kritiker dieser Art von politischem Engagement aufgetreten.

Metzger: 1968 stellte man sich die Frage, ob die Revolution Musik braucht. Die umgekehrte Frage, ob die Musik eine Revolution braucht, stellte man leider nicht. Die Frage, ob die Revolution Musik braucht, wurde irrtümlich mit ja beantwortet. Man exhumierte die Kampflieder der Arbeiterbewegung, man exhumierte den Eisler, gerade in Berlin – aber nicht seine Kunstmusik, sondern seine mißverständlich für politisch gehaltenen Werke, die eigentlich die unpolitischsten sind. Die Arbeiter waren da etwas klüger. Sie dachten nicht daran, diese Kampflieder zu singen. Aus der Revolution ist natürlich auch nichts geworden, mit oder ohne Musik. Es war schon eine Tragödie. Heute wissen wir, daß es für die internationale Arbeiterklasse die letzte Gelegenheit gewesen wäre, die Betriebe zu übernehmen, und damit sich nicht nur von der Lohnarbeit zu emanzipieren, sondern von der Arbeit überhaupt, die ja technologisch immer überflüssiger wird. Der Zeitpunkt ist verpaßt. Die Arbeiter werden abgeschafft. Sie können schon deshalb keine Revolution mehr machen, weil es sie nicht mehr gibt. Die Perspektiven sind ein für allemal vertan, und es zeigt sich, daß in dem politischen Dilemma, das da entstanden ist, alles sinnlos zu werden beginnt, einschließlich der Künste – einschließlich des Privatlebens ist alles nur noch just for fun.

Daß die Musik eine Waffe im Klassenkampf sein könnte, das ist wohl einfach nicht wahr. Den Klassenkampf mit Musik führen zu wollen, ist die absurdeste Strategie, die man sich vorstellen konnte. Das ist politisch ebenso gescheitert wie musikalisch. Das gesellschaftliche Ergebnis war ja leider, daß die Unterhaltungsindustrie salonfähig gemacht wurde von den 68ern. Das ist schließlich dabei herausgekommen. Die Musik, mit der die Industrie das Volk verdummte, wurde fehlinterpretiert als die gärende Musik der revolutionären Unterklasse.

Neuner: Muß man dann als Komponist oder als Musiktheoretiker sagen: Wir können diese Dinge gar nicht beeinflussen, wir haben dazu nichts beizutragen, das geht uns nichts an, Rückzug in den Elfenbeinturm sozusagen?

Metzger: Das auch wieder nicht! Es gab damals bei intelligenteren Künstlern eine Tendenz zur vorläufigen künstlerischen Abstinenz. Der Rainer hat damals diesen Slogan gebraucht: Stücke machen können wir erst wieder, wenn alle Stücke machen können. Es war eben die umgekehrte Auffassung, nämlich nicht, daß die Revolution Musik braucht, um zu gelingen, sondern daß die Musik die Revolution braucht, um wieder möglich zu werden.

Neuner: Rainer, du hast damals als Komponist begonnen. Haben diese Debatten dein Tun wieder grundlegend in Frage gestellt?

Riehn: Ein bißchen hat es das schon in Frage gestellt. Ich will aber zuerst auf meine Jugend zurückkommen. Das hängt irgendwie damit zusammen. Ich bin großgeworden in einer Familie, die nicht sehr begütert war. Wir sind aus dem Osten geflohen und wir hatten sehr wenig Geld. Mein Vater ist im Krieg gefallen, meine Mutter mußte drei Kinder ernähren. Irgendwann hatte ich den Wunsch, Musik zu studieren, und da war's für mich dann, wenn man so will, eine politische Angelegenheit, daß ich in die Lage versetzt wurde, das machen zu können. Darum mußte man damals kämpfen. Später, in Utrecht, habe ich das Ensemble Musica Negativa gegründet, das sich zum Ziel gesetzt hatte, neue Musik an die Menschen heranzubringen, das war ein ähnlicher Impuls.

Ich habe damals, als mein erstes elektronisches Stück uraufgeführt wurde, im Programmheft geschrieben, daß ich zu dem Stück nichts sagen kann und daß man durch Komponieren nichts ändert. Später habe ich dann formuliert: Aber durch Nicht-Komponieren ändert man auch nichts.

Metzger: Der entscheidende Unterschied zwischen dem, was die 68er unter politisch engagierter Musik verstanden und dem, was ich darunter verstand, betrifft einfach die dialektische Substanz der Immanenz. Also, im Innern des autonomen Kunstwerks spielt sich Politik ab. Damals galt diese Autonomie der Kunst als unhaltbar. Die Ablehnung der Autonomie der Kunst war aber letztlich nichts anderes als die Ablehnung der Autonomie des Menschen. Die revolutionären Kampflieder, die waren alle tonal, sie nahmen mithin Partei für ein durchhierarchisiertes musikalisches Idiom.

Neuner: Ihr habt diese falsche politisch engagierte Musik kritisiert und dagegen ja auch ein Modell gesetzt. Wie hat man sich die politische Relevanz einer solchen autonomen Musik vorzustellen?

Riehn: Ich würde zunächst einmal, ganz primitiv vielleicht, fragen: Was ist die politische Funktion eines Bäckers? Was ist die politische Funktion eines Arztes? Da fragt man nicht nach dem offoziellen politischen Selbstverständnis eines Arztes oder eines Bäckers, sondern der Bäcker muß gute Brötchen backen, das ist seine politische Aufgabe, der Arzt muß die Leute gut behandeln können. Wenn er ein politisches Bekenntnis abgibt, aber ansonsten ein schlechter Arzt ist, dann brauch' ich ihn nicht. Genauso würde ich sagen: Die Aufgabe eines Komponisten ist, gute Musik zu machen. Das ist seine politische Aufgabe. Das ist im Grunde genommen ein revolutionäres Konzept, wenn man das wirklich durchsetzen kann.

Metzger: Damals gab es durchaus Modelle. Die damalige geistliche Musik von Dieter Schnebel hat für mich eine Rolle gespielt als technisches Modell für politische Musik. Die Glossolalie von Schnebel ist nicht nur eine Darstellung des Zungenredens, so wie eine Bach-Passion eine Darstellung der Passion Christi ist, sondern es ist Zungenreden selbst: real. Mir schwebte vor, dasselbe müßte für politische Inhalte gelingen: daß sie unmittelbar in Musik umschlagen, also nicht durch Musik dargestellt oder verherrlicht oder kritisiert oder kommentiert werden, sondern daß sie essentiell dieser Inhalt sind. Und ein, sagen wir mal, säkulares Modell dieser Art, war für mich damals das Klavierkonzert von John Cage. Die Abschaffung der Partitur, diese strenge Freiheit, in der jeder Mitwirkende sich seinen eigenen Zeitplan macht, in dem er nach den Anweisungen des Werks seine Arbeit verrichtet. Dieser Arbeiter ist Herr seiner Zeiteinteilung. Ich nannte das damals ein positives Modell von Individualanarchismus mit beschränkter Kooperation, ein musikalisches Modell für herzustellende gesellschaftliche Verhältnisse.

Neuner: Es gibt im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe solcher Modelle. Man könnte auch weiter zurückgehen und die Wiener atonale Revolution nennen. Das hat ja offenbar alles nichts gebracht.

Metzger: Nein.

Neuner: Heinz-Klaus, du hast in einem Vortrag in Solingen, der eine Art Jahrhundert-Résumé war, gesagt: „Was der Kunst fehlt, ist lediglich die Wirklichkeit." Das ist doch einigermaßen resignativ, zu sagen: Wenn die Menschen zu blöd sind, diese fortschrittlichen Modelle adäquat zu rezipieren, dann kann man eben auch nichts machen. Kunst ist dann nur noch ein Dokument, daß eben einige Leute klüger waren.

Riehn: Warum darf man nicht resignativ sein? Warum soll man optimistisch sein?

Metzger: Es hat sich historisch ja wirklich gezeigt, daß die Emanzipation der Dissonanz leichter zu machen war als die der Frau oder die der Schwulen, gar die des Proletariats. Es ist ja wirklich leichter gegangen. Also, daß gewisse revolutionäre Schritte auf Gebieten, wo sie leichter zu verwirklichen sind, dann auch eher verwirklicht werden und sogar besser gelingen, ist eigentlich kein so großes Wunder. Irgendwo in der Ästhetischen Theorie weist Adorno ganz beiläufig darauf hin, daß selbst der genialste städtebauliche Entwurf notwendig beträchtlich zurückbleibt schon hinter einer einfachen musikalischen Komposition, weil er sich seinem Wesen nach bereits einer praktischen Bewährung ausgesetzt sieht, die eine musikalische Komposition nicht bestehen muß. In der Architektur sollten Neubauten so sein, daß sie nicht einstürzen. In der Musik kann es gut sein, wenn sie einstürzen.

Neuner: Komponisten wie Lachenmann und Spahlinger, also Vertreter der 68er-Generation, stehen heute noch für ein Komponieren, das seine politischen Implikationen reflektiert. Ihre Schüler scheinen bei ihnen alles mögliche gelernt zu haben, bloß das nicht.

Metzger: In der nachfolgenden Generation gibt es so unendlich viele gute Komponisten, daß man sich nicht einmal mehr die Namen alle merken kann. Die sind alle nicht schlecht, die sind auch alle irgendwo sogar originell, sicher machen sie auch irgendwie dasselbe, jeder ganz anders, und es geht über in eine neue Form von gehobener Unterhaltungsmusik, die sich im Innern der Kunstmusik selber abspielt. Das allgemeine Niveau des Komponierens ist jedenfalls im Bereich der Kunstmusik sehr angestiegen, aber das Ganze wiegt nicht mehr besonders schwer.

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