Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das Klavier des kleinen Mannes

Bandonionorchester als Teil der Berliner Arbeiterkultur

Wenn Menschen nur deshalb gemeinsam Musik machen, um durch sie in eine andere Welt einzutauchen und die Arbeit zu vergessen, dabei Freunde und Bekannte zu treffen, und um gemeinsam ein paar schöne Stunden zu verbringen, dann kann man diese Menschen mit gutem Recht als Amateure oder Dilettanten bezeichnen ­ als Musikliebhaber eben, die das Musizieren nicht als Broterwerb betreiben. Heute hat das allerdings einen leicht negativen Beiklang, etwa, daß diese Musiker etwas minderbemittelt seien, sonst wären sie ja Profis.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren die Begriffe Amateur oder Dilettant auch noch nicht so negativ besetzt ­ im Gegenteil: Die hauptsächlich in Vereinen organisierten Dilettanten machten neben staatlichem und kommerziellem Musikbetrieb sogar einen wesentlichen Bestandteil der Berliner Musikkultur, gerade der Arbeiterkultur aus. Neben den Arbeiterchören spielten dabei die Bandonionorchester eine besondere Rolle.

Das Bandonion ist ein relativ junges Instrument, das der Krefelder Musiklehrer Heinrich Band vor gut 150 Jahren aus der Deutschen Konzertina entwickelte: eine Ziehharmonika, die mit Hilfe beidseitig angebrachter Spielknöpfe bis zu 164 Töne erzeugen kann und im Gegensatz zum Akkordeon nicht über feste Akkorde verfügt. Als „Klavier des kleinen Mannes" verbreitete es sich zunächst vor allem in den Bergbauregionen im Ruhrgebiet und in Sachsen, wo auch die wichtigsten Bandonionbauer ihr Handwerk ausübten. Der bekannteste dürfte Alfred Arnold aus Carlsfeld im Erzgebirge gewesen sein, dessen Instrumente später im Argentinischen Tango eine herausragende Rolle spielten. Pionierarbeit in Berlin leistete der Leipziger Buchdrucker Willy Guido Böttger, der während seiner Wanderjahre bereits den „1. Hannoverschen Instrumental Dilettanten Club Arion v. 1893" gründete und sich um die Jahrhundertwende im Berliner Raum niederließ, wo er einen Bandonionverein nach dem anderen ins Leben rief. Der erste entstand als „1. Bandonion-Verein Saxonia v. 1902" im Restaurant Franz Jänicke in Britz und musiziert noch heute. Böttger komponierte und arrangierte, wirkte als Dirigent in seinen Orchestern, brachte im eigenen Verlag spezielle Bandonionmusikalien heraus und förderte so die Entstehung einer breiten Bandonionkultur in Berlin.

Die für das Bandonion herausgegebenen Musikalien stehen in einer bereits 1896 speziell für das Instrument entwickelten Tastenschrift, der „Wäscheleine", die mit den Tastensignaturen am Instrument korrespondiert. Dadurch war es auch Notenunkundigen möglich, Stücke vom Papier abzulesen und ertönen zu lassen. Nach der Jahrhundertwende hatten deshalb die Bandonionorchester großen Zulauf, und viele wurden neugegründet. Häufig verstanden sich die Musiker als Teil einer musikalischen Avantgarde, gaben sich Namen wie „1. Chromatischer Bandonionklub Berlin 1921", „Bandonionverein Echo 1927" oder „Bandonionverein Namenlos" und probierten neue Formen aus. Einige erweiterten ihre Bandonionorchester um traditionelle Orchesterinstrumente oder spezialisierten sich auf chromatische Instrumente, bei denen Ziehen und Quetschen die gleichen Töne hervorrufen. Allein in Berlin existierten fast 100 dieser Vereine, die ihr musikalisches und geselliges Leben selbst in die Hand nahmen und bis 1933 völlig abseits von kommerziellem Musikbetrieb und staatlicher Kontrolle regelten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gerieten die Vereine per Verordnung unter die Kontrolle der Fachschaft Volksmusik der Reichsmusikkammer. Damit verlor das Bandonionmusikleben seinen speziellen Charakter, der auch nach dem Ende des 2. Weltkriegs nicht wiederzubeleben war.

Dirk Rudolph

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