Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Leichte Verschiebung

Wie die Bewohner einer norwegischen Insel aus dem Gleichgewicht geraten

Maren Gripe lebt auf einer überschaubaren norwegischen Insel, deren Rhythmus vom Meer bestimmt ist. Das Geräusch der aus einem Großmast gefallenen Trosse läßt Maren in der Nacht aufwachen, in der sie, wie es später hieß, verrückt wurde. Øystein Lønn führt die junge Frau in einer verschränkten Rückblende ein. In die erzählte jüngste Vergangenheit schieben sich Berichte von Augenzeugen. Die Mutter Sunniva Gripe, der Pastor, der Ehemann Jacob, der Wirt Tollerud und der Arzt Hallum berichten über die seltsamen Vorgänge um Maren, nachdem diese in einem Boot hinüber zum Krankenhaus gerudert wurde, um ihren geistigen Zustand untersuchen zu lassen. Verwirrend stellen sich die zeitlich verschobenen Passagen dar, die minutiös von einer Verschiebung der Realität berichten. Was war eigentlich geschehen? Die schöne junge Frau, die in den Salzspeichern am Hafen arbeitet, geht eines Nachts in die Schenke des Tollerud, um Genever zu trinken. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Vor dem Gasthaus steht Maren in der sich öffnenden Tür und erblickt Leo Tybrin Beck, einen ausländischen Seemann. „Maren wäre fast umgefallen, als sie ihn sah, stützte sich aber so auf den Korb, daß es aussah, als sei sie plötzlich gestolpert. Das machte keinen Unterschied. Er bemerkte sie kaum."

Maren kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Alle, die Maren kennen, wundern sich. Da sitzt Maren Gripe zum ersten Mal im berüchtigten Gasthaus, trinkt Genever und schaut. Sie wird verrückt.

In den Metropolen unserer Zeit gibt es kein stilles, kaum wahrnehmbares Verrücktwerden. Wenn etwas aus dem Lot gerät, wird es erst als Extrem sichtbar, eine schreiende oder seltsam bzw. gar nicht bekleidete Frau kann als verrückt bezeichnet werden, aber eine stille, die nur trinkt und schaut? Sie würde wahrscheinlich gar nicht auffallen.

Øystein Lønns Kaleidoskop verschiedener Ansichten des seltsamen Verhaltens der Maren Gripe ist eine Gratwanderung. Enges Bei- und Miteinanderleben kann einschränken, bevormunden, durch Kontrolle zum Kerker gedeihen. Aber die Inselbewohner Lønns sind „normale", liebenswerte Leute, die ihre Schrullen haben und einander respektieren. Sie sind auf dieses Gleichgewicht und die Toleranz angewiesen, damit sie der Eintönigkeit ihres schroffen Eilands trotzen können. Und da bricht eine aus. Sie wird aber nur scheinbar verrückt, sie tut vielmehr, woran sie sonst nie dachte, wozu sie Lust hat. Das erkennt schließlich auch der zu ihrer Untersuchung bestellte Arzt auf dem Festland. Als er sie fasziniert zur Anlegestelle zurückgeleitet, betrachtet er Maren – ein Moment, in dem „seine inneren Organe gleichsam eine andere und vernünftigere Lage" finden.

Wo einmal der Schmetterling seinen Flügelschlag erhebt, bleibt nichts, wie es war. Das millimeterbreite Verrücken der Maren Gripe löst eine wahre Handlungsflut aus, die den Leser mitreißt und fortträgt, zu den schwarzen Loden, die in der Sonne beim Walken plötzlich türkisfarben werden.

Anne Hahn

Øystein Lønn: Maren Gripes notwendige Rituale. BerlinVerlag, Berlin 2001. 36 DM

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  Ausgabe 12 - 2001