Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Vorweihnachtszeit, Alexanderplatz

Nackte Frauen und Devotionalien unterklassiger Fußballvereine

Wer gerade vom Secondhandkaufhaus Humana kommt und zum Weihnachtsmarkt auf den Alexanderplatz möchte, gelangt duch eine etwa dreihundert Meter lange, gelb-orange gekachelte Unterführung dorthin. Es riecht ein wenig wie in einer Tiefgarage. Ein Kiosk verkauft Tannengestecke mit Kerzen, in denen kleine Weihnachtsmänner sitzen, während sein Besitzer Pommes mit Ketchup aus einer Pappschale ißt. Die Neonröhren aus DDR-Zeiten sind nicht allzu hell, nur wenige Leute sind unterwegs. Die Stimmung ruhiger Melancholie unterstreicht ein bärtiger Mann mittleren Alters, der am Aufgang zum Kaufhof sehr, sehr traurige russische Lieder singt und sich dabei mit einer Westerngitarre begleitet.

Auch draußen ist nicht viel los. Der Weihnachtsmarkt hat gestern begonnen, aber offenbar hat man auf dem Alexanderplatz kein Interesse daran, sich jetzt schon in irgendeinen unnötigen Trubel hineinziehen zu lassen. Daß Weihnachten naht, ist dennoch unübersehbar. Vor Burger King und Saturn ist in Reih und Glied eine Phalanx struppiger Weihnachtsbäume aufgebaut, jeder mit einem Namensschild aus Pappe versehen. Sie heißen: Kaufhof, Fielmann, Burger King, Berliner Zeitung, Forum Hotel, Saturn, Berliner Sparkasse.

Den meisten Zulauf haben die Stände, die Alkoholika verkaufen. Am Glühweinstand sind mehrere Stehtische besetzt. Vor einer Bude, die Bier ausschenkt, steht eine schweigsame Männerrunde beim Frühschoppen. Die Champignons und Grünkohlpfannen Þnden auch noch ein paar Abnehmer, aber kaum jemand scheint seine Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Das Sortiment ist auch etwas merkwürdig: Ein Händler verkauft Hundehalsbänder und Ketten mit Haschblattanhängern, aus einem Ghettoblaster kommt peruanische Musik, in einer Auslage finden sich Schreckspinnen und andere Insekten in phosphor-hellgrün. An einem anderen Stand gibt es Kerzenhalter in Gestalt von Totenköpfen, Gerippen oder der Totenmaske Tutanchamuns. Auf meine Frage, ob die Figuren aus Wachs bestehen, erhalte ich die Antwort, das alles stamme aus Westdeutschland. An einer Bude, die Stoffklapperschlangen und Warane feilbietet, wird ein Gespräch über den Tod geführt: Die Verkäuferin erhofft sich ein ewiges Leben nach dem Tod, der Gast hält das für Betrug. Soweit ich beobachten kann, hat er keine Klapperschlange gekauft. Der einzige Händler, bei dem gleich mehrere Kunden Waren erstehen, hat in seiner Auslage ein wüstes Durcheinander von CDs, Schreibblocks mit Popstars oder Eroticgirls und BFC-Schals. Liegt es an der Erotik oder am Charme des BFC? Schließlich finde ich doch noch einen, der an einem ganz normalen Stand mit Weihnachtskrempel einen Holzstern zum Aufhängen kauft.

Schon fast auf dem Rückweg, treffe ich einen Weihnachtsmann nebst Christkind. Er sammelt mit einer Klingelbüchse Geld für Obdachlose und verkauft nebenbei die Motz. Eine verlebte Frau unterhält sich mit ihm. Ein Fachgespräch: Ihr Sohn lebt in einer Obdachlosenunterkunft, sie kennt die Verhältnisse. Und ihr geht es augenblicklich auch nicht gut. Wer den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz für eine kommerzielle Veranstaltung hält, hat irgendetwas falsch verstanden. Oder irgendetwas ist falsch gelaufen. Im letzten Verkaufsgespräch, das ich verfolge, geht es um die Weihnachtszeit. Die Verkäuferin, die auch keine ihrer Christbaumkugeln verkauft, erzählt ihrem Kunden, daß sie die Zeit um Weihnachten liebt, weil sie so schön träge sei.

Tina Veihelmann

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  Ausgabe 12 - 2001