Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
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Das Narrative und das Nicht-Narrative

Das Kino Arsenal zeigt die Filme von Chantal Akerman

Chantal Akermans Beitrag zur diesjährigen Biennale von Venedig trug den Titel Woman sitting after killing. Auf sieben Monitoren, minimal zeitversetzt, war ein nur wenige Minuten dauerndes Video zu sehen, das in einer einzigen Einstellung frontal eine Frau zeigte, die einfach nur dasaß. Innerhalb der Flut von Video-Darkrooms, mit denen die Biennale-Präsentation auf dem Gelände des Arsenals auch in diesem Jahr wieder aufwartete, war Akermans Beitrag ein einsames Beispiel konziser Filmkunst; denn die meisten sogenannten Videoinstallationen sind angesiedelt in einer Grauzone zwischen filmischem und bildnerischem Dilettantismus. Die Schutzzone des intermedialen Nirwanas hat Chantal Akerman nicht nötig.

In dem Film, der Chantal Akerman 1975 bekannt machte, spielt auch ein Mord eine herausgehobene Rolle: Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles dauert dreieinhalb Stunden. Gezeigt werden die banalen Alltagshandlungen einer Hausfrau. Das einzige, mehr oder weniger aufregende ist ihr Nebenverdienst als Prostituierte. Doch dann passiert dieser Mord. Einige Kommentatoren haben Akerman diesen dramatischen Akzent übel genommen, gemeint, der Film wäre ohne Mord innovativer gewesen. Die belgische Filmemacherin, damals erst 25 Jahre alt, meint dazu: „Wenn sie ein Glas auf den Tisch stellt und man glaubt, die Milch könnte verschüttet werden,
ist das ebenso dramatisch wie der Mord."

Chantal Akermans Werk, das derzeit im Kellerkino Arsenal umfassend präsentiert wird, changiert zwischen strukturellen und narrativen Versuchsanordnungen. Akerman selbst anerkennt diese Trennlinie nicht: „Ich glaube, daß das Narrative und das Nicht-Narrative dasselbe ist", sagt sie, „ich habe mit beiden Formen gearbeitet und weiß, daß es genau dasselbe ist."

Anfang der siebziger Jahre geht sie nach New York, um im Dunstkreis der Anthology Film Archives konsequentes, strukturelles Arbeiten kennenzulernen: „Man war in New York so weit entfernt von Hollywood", so Chantal Akerman rückblickend, „dort gab es keine Vermischung von Leuten, die Filme wie Malerei machten, und der Filmindustrie." Für Akerman indes sind die Fronten keineswegs klar. Ende der siebziger Jahre versucht sie in Los Angeles, Geldmittel für eine Verfilmung des Romans Das Landgut von Isaac Beshavis Singer aufzutreiben; das mißlingt ihr.

Man könnte Chantal Akermans Schaffen als einen Versuch sehen, die zwei großen Stränge der filmischen Avantgarde vielleicht nicht zu versöhnen, aber doch zusammenzudenken: den struktural-formalen Impuls – Film als bewegtes Bild – und eben den narrativen. Es gibt Literaturverfilmungen von Chantal Akerman wie das Porträt eines Mädchens am Ende der sechziger Jahre in Brüssel, in der die Begegnung einer Schulaussteigerin und eines Deserteurs verhandelt wird. Es gibt aber auch Filme wie Toute une nuit, der vor der Folie einer Brüsseler Sommernacht, Fragmente von Begegnungen, Abschieden und Auseinandersetzungen, in Kneipen und in Privatwohnungen – meist zwischen heterosexuellen Paaren – aneinanderreiht und in ihrer unaufgelösten Spannung beläßt. Die Nacht ist schwül und eine Abkühlung wird nicht gewährt.

D'Est und Sud aus den neunziger Jahren beschreiben zwei maximal gegensätzliche Topographien: Mit D'Est inszenierte Akerman ­ „solange noch Zeit ist" ­ eine Reise von Ostdeutschland bis nach Moskau: eine Reise in den Winter und ein Prozeß der Entschleunigung; „Bradykardie (Verlangsamung der Herzfrequenz)". Sud hingegen zeigt in langen Kamerafahrten die unspektakuläre Trostlosigkeit texanischer Vorstädte. Hineinmontiert sind Interviews mit Leuten aus Jasper, wo ein rassistischer Mord an einem Schwarzen passiert ist; auch der Trauergottesdienst und die beschwichtigenden Aussagen des Bürgermeisters, der ­ wie auch hierzulande üblich ­ den Mord mit sozialen Problemen erklärt.

Nuit et Jour von 1991 zeigt die Geschichte einer Frau, die niemals schläft, und die ­ in der Nacht und tags alternierend ­ zwei Geliebte hat. Julie lebt nur der Liebe, und die Utopie ist, daß sie es in verantwortlicher Weise tun kann. „Ich bin immer gegen die Heuchelei, aber ich bin für eine Ethik, eine Moral der Beziehungen", so Chantal Akerman. „Worauf wir noch setzen können, das ist unser eigenes Leben. Wir können unser eigenes Leben auf möglichst gerechte, auf möglichst richtige Weise leben."

Florian Neuner

Retrospektive Chantal Akerman, bis zum 29. Januar im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten, www.fdk-berlin.de

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