Ausgabe 12 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Brachgedanken

Topie von Zwischenräumen und Ruhezeiten

Ursprünglich wollte ich eine Fortsetzung zu Walter Benjamins Passagenwerk schreiben. Das Passagenwerk ist eine unvollendete Sammlung von Fragmenten, die erst nach Benjamins Tod veröffentlicht wurde. Die Form des Fragments entspricht seinem Gegenstand: Das Wort Passage bedeutet Durchgang oder Übergang, aber auch Abschnitt oder Auszug. Es geht um vorübergehende Erscheinungen, um das Umherschweifen in der Stadt, um die zeitweilige Verklärung der Warenwelt. Für solche Motive wäre ein vollendetes Lehrgebäude fatal. Auch dieser Text wird keinen durchkonstruierten Überlegungen folgen, sondern lediglich kleine Bruchstücke geben.

Passagen, wie sie Benjamin so leidenschaftlich beschrieb, sind aus der Metropolenlandschaft des Westens längst verschwunden. Statt dessen ist unser Alltag von Einkaufspassagen geprägt, auch Einkaufsarkaden, Malls oder Centers genannt. So wenig wir diese Knotenpunkte des Warenverkehrs bewußt wahrnehmen wollen, so hastig und unbefangen wir diese räumlichen Banalitäten durchqueren möchten, die Stadtordnung hat sie unentbehrlich gemacht. Von einem neuen Passagenwerk kann keine Rede sein ­ höchstens von einem Einkaufspassagenwerk.

Zunächst ging ich vom Gesundbrunnencenter zur Kudammpassage, von den Schönhauser Allee Arkaden zum Potsdamer Platz. Bis ich bemerkte, daß die Raserei nicht der Mühe wert war. Am Ende wußte ich kaum mehr, ob ich mich auf einem Flughafen, einem Bahnhof oder in einem Event-Center befand. Bodyshops, Mediamarkt, Turnschuhtempel, Espressobar und Scharen von Schlafwandlern, die den zweckmäßigen Besuch mechanisch erledigen. Die Maxime der Stadt ohne Eigenschaften lautet: Plätze aller Länder, ähnelt euch!

Gleich am Eingang der Mall warnt eine plakatierte Hausordnung den eventuellen Flaneur: „Ein unnötiger Aufenthalt im Centrum ist nicht gestattet." Dieser Triumph bürgerlicher Innerlichkeit steht in direktem Gegensatz zu jenen öffentlichen Räumen, deren äußerliche Vermittlungsfähigkeit Benjamin so schätzte. Moderne Einkaufspassagen mögen Gegenstand von Soziologen sein, der Ästhetik und der Utopie haben sie nichts zu bieten. Ein Einkaufspassagenwerk kann nur die Untersuchung seiner Unmöglichkeit sein.

Just als ich mit diesem Gedankenspiel begann, erfuhr ich von der Einweihung eines Walter-Benjamin-Platzes. Zwischen der Leibniz- und der Wielandstraße in Charlottenburg lag ein großes unbebautes Areal, eine seltsame Fehlstelle, den Stadtplanern schon lange ein Dorn im Auge. Nach jahrelangem Streit durfte hier schließlich Hans Kollhoff die „Leibnizkolonnaden" errichten, während der leere Platz Walter Benjamin gewidmet wurde. Die Einweihungsfeier im Mai 2001 sorgte für die übliche Emphase der Stadtchronisten. So lobte etwa der Tagesspiegel: „Wie beim Markusplatz in Venedig schneidet eine klare, gleichförmige Randbebauung einen freien Platz aus dem Häusergeflecht". Und: „Ein Springbrunnen ohne Becken, der nur aus Düsen im Pflaster besteht, soll mit barockem Wasserspiel die Passanten und Gäste der Straßencafés erfreuen." Eher nüchtern hingegen verglich der Journalist Kollhoffs Säulenordnung mit den „europäischen Klassizisten der dreißiger Jahre", für faschistische Architektur ein eindeutiges Understatement – und Ausdruck genug dafür, wie wenig sich Walter Benjamin auf seinem Platz zurecht gefunden hätte.

Wie aus dem Lexikon abgelesen würdigte denn anläßlich der Feierlichkeit der Charlottenburg-Wilmersdorfer Bezirksbürgermeister Statzkowski den armen Benjamin als „einen der wichtigsten Repräsentanten der deutsch-jüdischen Kultur in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts", der sich als Bürger von Charlottenburg und Wilmersdorf „mit Städtebau, Konsum und Kultur beschäftigte". Die Regel des Genres verlangt von einer Bürgermeisterrede einen passenden Auftakt durch ein Zitat, das Statzkowski nicht bei Benjamin, sondern bei Leibniz (von den Kolonnaden) fand. Einen besseren Einspruch gegen das Kollhoff'sche Erzeugnis hätte er nicht finden können – das Zitat lautet: „Der freie Platz bezeichnet die Möglichkeit dessen, was in bezug auf die Wirklichkeit fehlt."

Großartig! Als Kontrapunkt könnte man Thomas Kapielski zitieren: „Alles ist auch nur da, damit das, was nicht da ist, entlastet wird". Als Graffiti am Eingang einer Einkaufshalle würde dieser Satz seinen paradoxen Schein verlieren. Denn: Wo ein Zentrum entsteht, wird auch eine Peripherie geschaffen. Wo der Warenverkehr sich auf einen Punkt konzentriert, entleert sich der umliegende Raum. Das Negative des Einkaufszentrums sind die verwaisten Straßenzüge, in denen kleine Läden schließen mußten. Doch „negativ" ist hier nicht in moralischem, sondern in dialektischem Sinne zu verstehen. Es werden freie Plätze geschaffen – und somit Bezeichnungen der Möglichkeit dessen, was in bezug auf die Wirklichkeit fehlt. Endlich wird der Mangel sichtbar. Die entscheidende Auseinandersetzung findet nun nicht mehr um die Zentren statt, die ohnehin nicht mehr umfunktioniert werden können, sondern um jene Zwischenräume, die noch immer Überraschungspotential in sich bergen.

Die einzigartige Anziehungskraft Berlins in den letzten Jahrzehnten bestand in seinen unzähligen Brachen. Diese Baulücken hatten weder als Kinderspielplatz noch als „Kunst im öffentlichen Raum" eine Daseinsberechtigung. Sie lagen einfach da, zweckfrei für alle, das sichtbare Nichts, Vergangenheitsspur und Potentialität zugleich. Es war ein kostenloses, kostbares Vergnügen, durch diese verfügbaren Orte zu streifen. Nun sind die Zeiten fast vorbei, die Wiesen sind zugebaut, die Hinterhoftüren verschlossen.

Die Tradition setzt sich zur Zeit noch in anderer Weise fort: In leeren Räumlichkeiten pflegen „Zwischennutzer" ein undurchschaubares Dasein. Immer öfter stößt man auf ehemalige Läden, die mit minimalistischem Dekor für unklare Zwecke umfunktioniert wurden. Hier bleiben Benjamins Passagenbeobachtungen aktuell: Diese Orte „schaffen einen Rahmen, in dem der Gebrauchswert zurücktritt". Sie „eröff-nen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle." Gewiß warten viele Zwischennutzer nur darauf, vom Kunstbetrieb verschlungen zu werden, um welche wirtschaftliche Anerkennung auch immer zu erlangen. Doch bisher hat es an transitorischen Soziotopen nie gefehlt. Und immerhin gelingt es diesem Gegenpol, die „Reststadt" mit seiner eigenen Ästhetik anzuziehen. Immer mehr Galerien werden als leere Räume getarnt, während sich Schuh- oder Gemüseläden genötigt sehen, Galerien zu ähneln.

Gewiß ist diese Ästhetik der Benjamins völlig entgegengesetzt. Als Vertreter der Moderne sah Benjamin die entstehende, neue Warenwelt mit utopischer Faszination. Die neue Technik gebar eine neue Welt. „Zu früh gekommenes Glas, zu frühes Eisen" schrieb er. Die „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware" brachten subversive Phantasien mit sich, so zumindest nach Benjamins Wahrnehmung. Die baulichen Strukturen von Weltausstellungen und Passagen betrachtete er als verfrühte Erscheinungen einer postkapitalistischen Ordnung. Neben der Zweckmäßigkeit des Konsums enthielten sie ebenso eine Sehnsucht nach dessen Überwindung. Heute hat eine solche ästhetische Ambivalenz ausgespielt. Abgesehen davon, daß die Perspektive eines Jenseits vom Kapitalismus in neblige Ferne gerutscht ist, wird sich niemand je eine Zweckentfremdung des Einkaufszentrums vorstellen können. Unter den Halogenstrahlern der Shopping Malls gelingt weder Verklärung des Tauschwerts, noch sind Überraschungen möglich. Man findet, was man sucht und sucht nur, was zu finden ist. Die postmoderne Botschaft lautet: Wenn du nicht bekommen kannst, was du dir wünschst, dann wünsche doch, was du bekommst.

Um die Brache wird politisch gekämpft. So zum Beispiel äußert sich die FDP über eine berühmte Leerfläche Berlins: „Der Schloßplatz ist ein trauriges, einer wichtigen europäischen Hauptstadt unwürdiges Bild. Wir wollen, daß die emotionslose Brache in der Mitte der Hauptstadt ein Ende hat." Nichts weniger als ein Schloß könnte die Emotionen der FDP stillen. Zum gleichen Thema schreibt die Berliner Morgenpost: „Auch die heutige Leere und Ruinenhaftigkeit des Platzes ist von lastender Symbolik. An keinem Ort wird so sehr offenbar, daß das wiedervereinigte Land noch zu keiner inneren Einheit und nationalen Selbstfindung gelangt ist." Der obsessiven Machtsymbolik wegen werden alle Lücken zubetoniert. Die Illusionen des konstanten Wachstums, der nationalen Einheit und der wiedergefundenen Mitte werden eifrig mit Gemeinplätzen aus Stahl und Glas veranschaulicht. Dazu bleibt uns kein Unwort erspart: Flächenrecycling, Umnutzung, Baureifmachung, Inwertsetzung, Bauwürdigkeit.

Daß die Brache im Gegensatz zur Sterilität der Einkaufszentren die letzte Opportunität einer heterogenen Ästhetik bietet, wird beispielsweise in folgender Darstellung deutlich: „Vor der schwarzen Wand, zu der die Bäume im Tiergarten um diese nächtliche Stunde zusammenwachsen, liegt diese dunkle Brache, auf der ein paar Dutzend Neonröhren gemeines Unkraut mit fahlem Licht bescheinen. Dazwischen, im hellen Sand, stehen elf Kästen, hellgrau und fast schwarz. Sie sind aus Stein und sehen aus wie Särge, besser: Sarkophage. Ein Ort eigentümlich dimensionierter Vergangenheit. Manchmal lassen sich hier Krähenschwärme nieder, neben dem ,kanadischen Katzenschweif', jener Pflanze, die aus dem märkischen Sandboden sprießt."

So beschreibt ein Anwohner im Tagesspiegel das Areal, das demnächst für ein zweifelhaftes Holocaust-Denkmal geopfert werden soll. Weit von jeglicher Naturromantik entfernt zeigt er, wie die zufällige Mischung aus Wildwuchs und urbanen Ruinen das beste Holocaust- Denkmal überhaupt darstellen könnte.

Kein leeres Gelände im Berliner Raum erweckt so viel Empörung bei den Hauptstadtschwärmern wie der sogenannte Mauerstreifen – stets ist von einem „Riß durch die Stadt" und einem „Schandfleck des DDR-Unrechts" die Rede. So beklagte sich unlängst ein Architekturjournalist über die ehemalige Grenze an der Heinrich-Heine-Straße: „Heute markiert ein Dreieck aus Plakatwänden den Rand der Brache. Ein Mädchen und ein Junge von vielleicht zehn Jahren schlüpfen ins Innere des Triangels. Ob sie sich darin eine Hütte eingerichtet haben – oder erste Küsse tauschen?"

Hier zeigt sich, wie sehr der Haß auf den leeren Raum eigentlich ein Haß auf die Freiheit ist. Vor zehn Jahren schrieb der Berliner Stadtentwicklungskritiker Uwe Rada einen Aufsatz mit dem Titel „Kann man in Passagen küssen?", in dem er prophezeite: „Am Potsdamer Platz wird man einmal, wenn überhaupt, auch das Küssen inszenieren." Die Einwände gegen die Brache zeigen, daß weniger ihre mangelnde Kapitalverwertung als skandalös empfunden wird, als die Zeitverschwendung, die sie ermöglicht. Die Brache ist nicht nur Zwischenraum, sondern vorerst Zwischenzeit, wie schon die Herkunft des Wortes belegt: „Ruhezeit in der Dreifelderwirtschaft".

Hier treffen wir auf die Figur des „Glücklichen Arbeitslosen". Die Parallelität liegt auf der Hand: Das Flanieren ist Bestandteil der Muße und bleibt gestreßten Arbeitnehmern versperrt. Im Übrigen heißen Arbeitslose auf Haiti-Kreolfranzösisch „Flaneurs". Ein hiesiger Journalist bemerkte einmal, die „Glücklichen Arbeitslosen" seien „wirtschaftlich vergleichbar mit EU-subventionierten Brachflächen in der Landwirtschaft". Dementsprechend bekämpfen dieselben Entscheidungsträger mit denselben Begründungen sowohl stillgelegte Brachen als auch arbeitsunwillige Menschen. In der Baulücke muß unbedingt ein Büroturm entstehen und der Arbeitsscheue muß unbedingt einen Job annehmen. In Brache liegen heißt ungenutzt bleiben. Hier wird die Frage des Nutzens offenbar: Was fehlt eigentlich in bezug auf die Wirklichkeit? Die relevante Frage lautet weder: Wie können leere Räume wieder marktfähig gemacht werden? noch: Wie können Arbeitslose wieder in die Arbeitswelt eingegliedert werden?, sondern eher: Wie können Arbeitslose freie Verfügung über die leeren Räume erlangen?

Am Nordkreuz

Die Abnahme der Brachen verursacht laut Fachleuten Degradationsprozesse und Oberflächenverkrustung, Biotope sind durch Übernutzung und Monokultur bedroht. Dies ist nicht nur in bezug auf Botanik und Zoologie, sondern auch und zuerst kulturell zu verstehen. Die Notwendigkeit, wilde Gewächsflächen bestehen zu lassen, entspricht der, außerhalb von Marktzwängen denken und handeln zu können. Es muß Momente des Aufatmens, der Ruhe und der Ziellosigkeit geben, in der persönlichen Biographie nicht weniger als in der städtischen Organisation. Mit der Stadt als „Soziotop" verhält es sich ähnlich wie mit Korallenriffen: Man muß die prächtigen Farben eines lebenden Korallenriffs und dessen wuchernde Artenvielfalt erfahren haben, um den Anblick des verblichenen, von einer einzigen Algenart überwucherten Kalkskelettes als desolates Todesbild empfinden zu können.

Zurück zu Benjamin: Eine postmoderne Lektüre lobt das Passagenwerk als Vorläufer des Hypertexts. Benjamins Phantasien hätten sich endgültig verwirklicht, der moderne Flaneur habe in Gestalt des Internet-Surfers seine gelungene Verkörperung gefunden. Nicht die reale Stadt oder deren Leichnam sei Gegenstand der kulturellen Auseinandersetzung, sondern die virtuelle Realität. Armseliger Ersatz für armselige Menschen. Dagegen meinte Benjamin: „Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind."

Dessen ungeachtet wird allenthalben behauptet, wir lebten heute in einer „Wissensgesellschaft". Menschliche Gesellschaften waren jedoch immer schon Wissensgesellschaften. Was heute geschieht, ist hingegen eine sehr spezielle Umdeutung des Wissens, welches etwa auf die Archive reduziert wird oder selbstreferenziell auf das Wissen über den Zugang zum Wissen. Wissen im eigentlichen Sinne ist abhängig von Situation und entsprechendem Raum. Es bedarf der Möglichkeit, differenzierte Erfahrungen machen zu können, Quellen Þnden, nachprüfen und vergleichen zu können. Städtebauliche Monostrukturen erzeugen zwangsläufig Monokulturen. Das Einkaufszentrum entspricht der Unwissensgesellschaft.

Fazit: Die marktintensive Raumordnung erzeugt immer mehr leere Flecken, die arbeitsintensive Produktion mehr und mehr Arbeitslose. Das selbstreferenzielle Archiv schließt zunehmend heterogenes Wissen aus. In allen drei Prozessen entsteht eine außerkapitalistische Peripherie – die jedoch die eigentliche „Mehrheit" bildet. Vorausgesetzt, sie begreift sich selbst nicht mehr als Peripherie, sondern als Hauptschauplatz des Möglichen. Im Gegensatz zu Benjamins utopischer Vorstellung geht es um die „Topie", wie sie im Manifest der „Glücklichen Arbeitslosen" definiert wurde: „Utopie bedeutet nicht existierender Ort. Der Utopist entwirft die genauen Pläne einer angeblich idealen Konstruktion und erwartet, daß die Welt sich wohl oder übel in diese Form gießt. Dagegen bastelt der Topist mit Orten und Dingen, die schon vorhanden sind. Er konstruiert kein System, sondern sucht nach allen Möglichkeiten, den Topos zu verändern".

Guillaume Paoli

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