Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Was für eine blöde Musik!

Biertrinken ohne Beschallung ­ eine Utopie

Man mußte wirklich kein Anhänger des „real existierenden Sozialismus" sein, um schon bald nach der Wende einen zivilisatorischen Rückschritt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wahrzunehmen. In mehr und mehr Schankwirtschaften des Beitrittsgebiets vollzog sich ein Wandel hin zum Schlechten, hin zum Terror einer verblödenden und verrohenden musikalischen Beschallung. Die heilige Ruhe dieser Orte wich dem röhrenden, jeden Sinn nach Reflexion aus dem Hirn blasenden Gedudel aus den Musikboxen. Die Kultur der musiklosen Lokale wurde daselbst fast vollständig plattgemacht, so daß es dem Kneipengänger heute ziemlich schwerfällt, noch unbeschallte Schankwirtschaften zu finden.

Welch ein Erlebnis, Mitte der neunziger Jahre in einem brandenburgischen Nest ein Lokal zu betreten, in dem beinahe vollkommene Stille herrschte: Nichts überflüssiges: Stühle, Tische (ohne Tischdecke, ohne Plastikblümchen), ein äußerst schlichter Tresen, das wars. Dämmriges Licht, verraucht. An drei verschiedenen Tischen je ein Herr, durch inbrünstiges Schweigen sich als ein Mensch mit vornehmer Gesinnung zu erkennen gebend, einzig mit sich selbst und dem Bier beschäftigt, hinterm Tresen eine alte Dame, wortkarg und nur wenn unbedingt nötig mit den Gläsern herumklappernd, die Wirtin mimend. Ich bestellte ein Bier, setzte mich, trank, hörte mir beim Trinken zu, rauchte, hörte mir beim Rauchen zu, fühlte mich schnell im Zustand einer verzückten, geradezu göttlichen Benommenheit. Diese Kneipe, den Idealtypus einer Schankwirtschaft beschreibend, gibt es mittlerweile auch nicht mehr.

Um es unzweideutig zu sagen: Es geht nicht um die Qualität des Liedguts in Lokalen, es geht darum, daß Musik an einem solchen Ort einfach nichts zu suchen hat. Ich gehe in eine Kneipe, um Bier zu trinken, Gepräche zu führen (Selbstgespräche eingeschlossen), vielleicht auch zu schweigen wie jene edlen Herren aus dem Brandenburgischen, gern noch mehr Bier zu trinken, aber auf gar keinen Fall, um Musik zu hören. Selbst wenn sie mir ­ zu anderen Gelegenheiten ­ gefällt.

Daß Lokalbeschallung einen verrohenden Einfluß auf das Verhalten des Gastes hat und maßgeblich zu seiner Idiotisierung beiträgt, ist eh klar. Schon der leiseste Dudelmuzak führt, wenn nicht zur absoluten Gedankenflucht, so doch wenigstens zu schlechten Gedanken der Art: „Was für eine blöde Musik!" Ärgerlich, weil man so vom Nachdenken über das Schöne, Wahre und Gute abgehalten wird. Noch schlimmer, wenn der Wirt seine Anlage voll aufdreht. Wie kann ich meinem Tischnachbarn ein diffiziles Problem erläutern, wenn ich gezwungen bin zu schreien, damit er mich überhaupt versteht? Der Musikterror degradiert den Kneipengänger so zu einem vorzivilisatorischen Wesen, das gezwungen ist, sich in seiner Kommunikation auf das notwendigste zu beschränken: mittels eines entwürdigenden Gebrülls.

In Berlin ist die Situation besonders dramatisch, vergleicht man sie mit der in westdeutschen Gegenden (im Osten wurde jede diesbezügliche Tradition niedergewalzt). Nur wenige Wirte haben dem zeitgeistigen Gebot nach musikalischer Terrorisierung der Gäste widerstanden. Und wenn, dann lassen sie sich das zumeist ausnehmend gut bezahlen: Im unbeschallten „Odessa" in der Steinstraße (Mitte) etwa kostet ein kleines Bier satte 5,30 Mark. Oder aber der Gast muß auf andere Weise seinem Bedürfnis nach Ruhe Tribut zollen: In der Kreuzberger „Markthalle" in der Pükklerstraße wird dem gestandenen Kneipengänger das Gruseln ohne Musik gelehrt, weil er sich umgeben sieht von Leuten, die nur so tun, als seien sie Kneipengänger („Einen Kaffee und ein Wasser, bitte!"). Wenige Kulturoasen haben sich gehalten, in denen man nicht mit „fröhlichen" bzw. dezidiert „unfröhlichen" Rhythmen belästigt wird, in denen man zudem unter seinesgleichen (Kneipengängern: Biertrinkern) sitzt und nach fünf Bier nicht meint, erst einmal durchrechnen zu müssen, bezeichnenderweise gerade im Westteil der Stadt. Das „Leydicke" in der Schöneberger Mansteinstraße ist ein solches Widerstandsnest, eine Schankwirtschaft, die ihren Namen noch verdient, gleichwohl Mahnmal, daran zu erinnern, wie es eigentlich sein sollte.

Es ist ein Mißverständnis, die Kneipe lediglich als einen Ort der Zerstreuung zu begreifen, sie kann viel mehr sein: Ort der Einkehr, der Erkenntnis, der Selbsterfahrung: ohne Musik

Roland Abbiate

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