Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

In Rixdorf is' Musike

Das lasterhafte Dorf vor den Toren Berlins

Wenn in Neukölln ­ wie auch jüngst wieder ­ die Rede davon ist, den alten Namen Rixdorf zu entstauben und die Umbenennung von 1912 zurückzunehmen, geschieht das meist aus dem fragwürdigen Antrieb, auf diese Weise ein vorgebliches Imageproblem des Bezirks zu beheben. Diese Überlegungen vernachlässigen ein wenig, weshalb sich seinerzeit die bürgerlichen Stadtoberen von Rixdorf unbedingt einen neuen Namen ausdenken wollten. Insbesondere der Umstand, einer Stadt vorzustehen, die als das lasterhafte, proletarische Vergnügungsviertel für das nahegelegene Berlin schlechthin verschrien war, paßte nicht so recht ins Selbstbild der Stadtväter. Lieber wollte man einer jungen aufstrebenden Industriestadt zu ungeahnten Höhenflügen verhelfen.

Die gastronomische Karriere Rixdorfs nahm bereits im 16. Jahrhundert seinen Anfang. Damals wurde an einer Weggabelung am Fuße der Rollberge, auf der Höhe des heutigen Hermannplatzes, eine Schenke erbaut. Hier wurden die Pferde gewechselt, um den anstrengenden Weg von Cölln ins ferne Sachsen durchzustehen, und derweil ein paar Biere gekippt. Aus der Schenke erwuchs ab 1737 das legendäre Ausflugslokal „Rollkrug", in welches die Berliner nach ihrem Spaziergang im Grünen einkehrten. Besonders die nahegelegene Hasenheide war ein beliebtes Ausflugsziel, was sich mit dem Bau der Chaussee vom Halleschen Tor zum Rollkrug 1854 und mit der Einrichtung eines regelmäßigen Pferdebus- und später Pferdeeisenbahn-Betriebes noch verstärkte.

Anfang des 19. Jahrhunderts hockten die vielen Ausflügler noch hauptsächlich im Gras zusammen, um sich auszuruhen. Bald folgten fliegende Händler, die Getränke und Essen feilboten, oder Gaukler, Artisten und Musiker, die ihre Künste vorführten. Nach und nach entstand ein regelrechter Rummelplatz in der Hasenheide, mit Tanzplätzen unter Bäumen, wo Verliebte zur Musik aus dem Leierkasten oder zur Quetschkommode tanzten, mit Schießbuden und Pferdekarussells. Das hauptsächlich kleinbürgerliche oder der Arbeiterklasse entstammende Publikum zog immer mehr Geschäftemacher an. Es eröffneten Kaffeehäuser und östlich der Hasenheide siedelten sich verschiedene Brauereien an, die ihr Bier direkt in improvisierten Biergärten unters Volk brachten.

Rixdorf war erst 1874 zu einer einheitlichen Gemeinde aus Deutsch-Rixdorf und Böhmisch-Rixdorf zusammengelegt worden und hatte damals 15000 Einwohner. Schnell entstand das größte Dorf Preußens, dessen Bevölkerung innerhalb von 25 Jahren auf 80000 Einwohner anwuchs. 1899 erhielt der Ort die Stadtrechte. Mitten in dieser Zeit des Aufschwungs eröffnete am 25. April 1880 die „Neue Welt, Bergschloßbrauerei Hasenhaide". Die Neue Welt war eine 20000 Gäste fassende Gartenanlage mit großer Kulissenbühne und ab 1902 mit Saalbau. Sie war das größte und bekannteste Rixdorfer Vergnügungsetablissement. Hier fanden Veranstaltungen unterschiedlichster Art statt: Volkstheateraufführungen, Konzerte, Zirkus oder Boxkämpfe. Von Beginn an war die Neue Welt auch Treffpunkt der organisierten Arbeiterbewegung und später, nach der Revolution, diente sie als Sitzungsort des Arbeiter- und Soldatenrats der Neuköllner Räterepublik.

Mit dem Wachsen Rixdorfs und wegen des ungebremsten Andrangs entstanden immer mehr Veranstaltungssäle oder Gaststätten mit Programm. In der Hochphase vor dem ersten Weltkrieg gab es insgesamt 150 Orte, an denen Revuen oder Varietés dargeboten wurden, Laientheatergruppen, Bandonionvereine oder Arbeiterchöre Auftrittsmöglichkeiten fanden oder einfach getanzt wurde.

Mit dem Aufkommen des Films baute man fast alle großen Säle zu Kinos um. So entstand die Neuköllner Kinomeile, die vom Kottbusser Damm ausgehend die Hermannstraße entlang bis zur Silbersteinstraße führte und erst mit dem großen Kinosterben Mitte der siebziger Jahre wieder verschwand und jetzt völlig in Vergessenheit geraten ist. Das heutige Off-Kino in der Hermannstraße befindet sich an einem dieser Orte mit großer Tradition: Erbaut als Theater- und Ballsalon „Zur Berghalle" entstand dort 1885 im Hinterhof das 450 Personen fassende „Volks- und Varietétheater Maue", in dem seit 1908 auch Filme zu sehen waren. Ab 1918 beglückte es unter dem Namen „Lichtspielhaus Volkstheater" das Publikum, wechselte in den dreißiger Jahren den Namen in „Rixdorfer Lichtspiele" (Rixy) und verendete als Soft-Porno-Kino, bevor es 1979 zu neuem Leben erweckt wurde.

Im heutigen Neukölln ist nichts mehr von der großen Zeit zu spüren, als die Berliner Arbeiter in Scharen nach Rixdorf oder in den zwanziger Jahren nach Neukölln strömten, kein Piscator führt mehr sein „Proletarisches Theater" auf. An welche Tradition die Neuköllner Bezirksverordneten mit einer eventuellen Rückbenennung anknüpfen wollen, ist mehr als unklar, obwohl es eigentlich nur diese eine gibt. In die meisten der alten Vergnügungsstätten sind Geschäfte eingezogen, aus den Kindl-Festsälen in der Hermannstraße ist ein gesichtsloser Konsumtempel geworden, und auch der Neuen Welt droht nach aktuellen Plänen ein ähnliches Schicksal. Eine Schande ist das! Aber womöglich entspricht das genau dem Freizeitideal der jetzigen Arbeiterklasse.

Dirk Rudolph

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 11 - 2001