Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das Wrack ist unsinkbar

Zwei Neuerscheinungen in der amputierten Berliner Comicszene

Anita fotografiert Essensreste. Fasziniert sichtet sie ihre Sammlung: „Oh, dieses ist das ekelhafteste. Ich darf es nicht vergessen. Was für eine Sauerei diese Typen veranstaltet haben, sieht aus wie Kotze!" In knappen, nüchternen Bemerkungen berichtet Anita im gleichnamigen Comic von ihrem unspektakulären Leben als Bedienung in einem Diner, kleinen Liebeleien, ihrer Mitbewohnerin, die wieder von Unruhe gepackt wird und die weiterziehen muß, nach Kanada diesmal ... Die hauchzarte Alltagserzählung von Gabriella Giandelli bewegt sich dramaturgisch an der Grenze zum Nichts, erst im Zusammenspiel mit den Bildern von Stefano Ricci entwickelt sich eine dichte, leicht unwirkliche Atmosphäre. Riccis Malereien erinnern an verwischte Farbfotos, kombiniert mit extrem pastosen Farbschichten. Die glühenden Farben schaffen eine bizarre Stimmung, ein Leben unter permanenter Neonbeleuchtung. Ricci, in Italien ein gefragter Illustrator, ist ein unbestechlicher Stilist an der Grenze zur Abstraktion. So bringen umgekehrt Giandellis Texte die ruhigen, entrückten Bildabläufe wieder ganz nahe an den Leser heran, eine ideale Symbiose von Wort und Bild.

Johann Ulrich, Betreiber des neu gegründeten avant-verlags in Berlin, ist ein profunder Kenner der italienischen Comic-Kultur, deren Innovationskraft sich seit Jahrzehnten immer wieder aufs Neue zeigt, ohne dabei auch nur ansatzweise einen erfolgsversprechenden Markt zu bedienen. Einerseits ernüchternd, zugleich für Comicschaffende in Deutschland aber vielleicht auch Ansporn, neue Nischen für ein künstlerisch immer potenter werdendes, wirtschaftlich jedoch beständig schwindsüchtiges Medium zu suchen. Daß diese Suche nötig ist, zeigt die bevorstehende Auflösung eines der produktivsten Vertreter unter den deutschen Independent-Comicverlagen:Reprodukt schließt – finanziell ungestützt – leider seine Pforten, ein Schock nicht nur für die Berliner Comicszene. Als Nachfolgeorganisation des Berliner Ver- lags soll ein gemeinnütziger Verein entstehen, um die Comickunst fürderhin auf anderen Wegen zu fördern.

Daß die Comics zu stark sind, um einfach so in der verlegerischen Negativbilanz zu verschwinden, zeigt auch das bislang zweite Buch aus dem avant-verlag, Berlin 1931 der Spanier Raúl (Zeichnungen) und Felipe H. Cava (Text). Raúl präsentiert sich hier ebenfalls als Maler, ist jedoch im Gegensatz zu Ricci ein hemmungsloser Eklektizist, der sich wie ein comiczeichnendes Chamäleon für jede neue Geschichte den passenden Zeichenstil aneignet. In diesem Fall orientiert er sich an Malern wie Liebermann, Corinth, Kirchner und Grosz. Die Formensprache der Erzählung speist sich damit aus der selben Quelle wie das dargestellte Leben im Berlin des Jahres 1931: Noch klingt die große Zeit der Jahrhundertwende und ihre Fortsetzung in den zwanziger Jahren nach, noch existieren die bissigen Cabarets und vergnügungstrunkenen Varietés. Die Geschichte zeigt zerrissene Charaktere, Protagonisten einer kommunistischen Untergrundorganisation und ihre hektischen, bereits hoffnungslosen Verschwörungen, kurz bevor der braune Vorhang endgültig fällt.

Kai Pfeiffer

Stefano Ricci und Gabriella Giandelli: Anita. avant-verlag, Berlin 2001. 34 DM

Raúl und Felipe H. Cava: Berlin 1931. avant-verlag, Berlin 2001. 39 DM

Im Netz: www.avant-verlag.de

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