Ausgabe 11 - 2001 berliner stadtzeitung
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Die Erlösung war das Kino

Spätes Glück im Verschwinden: ein neues Buch von Ilse Aichinger

Das Werk von Ilse Aichinger, die kürzlich ihren 80. Geburtstag feierte, liegt seit nunmehr schon zehn Jahren übersichtlich in acht Fischer-Taschenbüchern vor ­ abgeschlossen, könnte man meinen: von ihrem Roman Die größere Hoffnung, der sie 1948 bekannt machte, bis hin zu Kleist, Moos, Fasane, dem Prosaband von 1987. Film und Verhängnis, das Buch, das nun nach 14jähriger Publikationspause erschienen ist, es ist eine Überraschung. „Formulierung ist Einverständnis" lautet ein häufig zitierter Aichinger-Satz; die 80jährige Ilse Aichinger, deren Texte immer dem Schweigen abgerungen waren, entfaltet nun eine für ihre Verhältnisse geradezu unglaubliche Produktivität. Aichinger nennt diese Prosa aus jüngster Zeit ein „spätes Glück". Der Großteil des Buches setzt sich aus Beiträgen zum „Journal des Verschwindens" zusammen, das sie seit einem Jahr für die Wiener Tageszeitung Der Standard verfaßt. Jeden Freitag erscheinen dort kurze Prosastücke, die häufig von Filmen und Fotografien ihren Ausgang nehmen, Betrachtungen zum Zeitgeschehen oder Hommagen, etwa an den verstorbenen H. C. Artmann. In einer Vorbemerkung zum „Journal des Verschwindens" schreibt Aichinger, daß es ihr vor allem an der Flüchtigkeit liegt: „Und selbst bei der Notiz, der kurzen Feststellung, dem Journal: nur als Anlaufstrecken für die Freiheit wegzubleiben. Als Kontrapunkt, mit dem das Verschwinden erst einsetzen kann."

Das Kino, Rückzugs- und Fluchtmöglichkeit, war für die junge Ilse Aichinger eine prägende Erfahrung: Sowohl den Beginn als auch das Ende des Kriegs erlebte sie dort. In ihrem „Journal" notiert die manische Kinogängerin, die keine Cineastin sein will: „Im Kino wird das Verschwinden geübt. Die Filmlandschaft ist zugleich Zuflucht und Ort der Distanz zur eigenen Person, der Trennung von ihr."

Immer wieder führen Aichingers Notate zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, den die „Halbjüdin" unter prekären Bedingungen in Wien überlebte. In Film und Verhängnis ist auch die Rede abgedruckt, die sie zur Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises gehalten hat, den man ihr ­ sehr spät ­ 1996 verliehen hat. Aichinger, in ihrer Skepsis und ihrem Anarchismus weitaus radikaler als ihre bekannteren, politisch engagierten „Kollegen" von der „Gruppe 47", sagte damals: „Was mich von Thoreau unterscheidet: Er kann sich, wie er schreibt, einen guten Staat vorstellen, auch wenn er ihn noch nie gesehen hat. Ich nicht."

Im Februar vertraute Aichinger, die die Bezeichnung „Dichterin" für sich als lächerlich empfindet, ihrem „Journal" an: „Der Tod im Kino: eigentlich etwas Anzustrebendes. Besser als Tod im Krankenhaus. Aber nicht in jedem Kino und nicht bei jedem Film."

Florian Neuner

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001. 35,20 DM

Das „Journal des Verschwindens" im Internet: www.derstandard.at

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