Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Spurensuche

Unter dem Stichwort Rare Schellacks war an dieser Stelle schon einmal die Rede von einer Reihe mit musikalischen Ausgrabungen aus der Frühzeit des Pop. Nun legt Trikont mit zwei Veröffentlichungen zu diesem Thema nach. Populäre Jüdische Künstler heißen die zwei CDs mit kleinen und großen Hits aus Musicals, Filmen und Revuen aus dem Zeitraum von 1903 bis 1933.

Abgesehen vom Hörvergnügen der Schlager, Chansons und Varietémitschnitte, stellt eine solche Spurensuche einen historischen Kontext her, der per se politisch und darüber hinaus auf eine geradezu beklemmende Weise aktuell ist. Denn trotz der fast schon verzweifelten Versuche jüdischer Künstler, sich zu assimilieren, wurden sie in Deutschland immer wieder als Fremdkörper wahrgenommen und letztlich das Opfer einer deutschen Leitkultur. Solange es en vogue war, sich in den Revuen und Theatern am jüdischen Witz und Scharfsinn zu amüsieren, war das Andere dieser Perspektive willkommen. Daß es sich beim Judentum aber um einen Bestandteil der deutschen Volkskultur handelt(e), das wollten (und wollen) die meisten Nichtjuden nicht anerkennen. Und so wurden alle jüdischen Künstler 1934 ­ ein Jahr nach der Errichtung der ersten KZs ­ mit einem Auftritts- und Veröffentlichungsverbot belegt. Unmittelbar nach dem Verbot schrumpften die dicken Kataloge der (Musik-)Verlage auf kleine Heftchen zusammen. Was mit der Entfernung und Zerstörung von jüdischem Ungeist begründet wurde, hinterließ in der deutschsprachigen Kultur mehr als nur eine Lücke.

Weniger dramatisch ist eine andere Spurensuche. Unter dem Titel Night of the Amazon hat der griechische Regisseur Alexis Mueller einen Film in groben Schwarz-Weiß-Bildern gedreht. Erzählt wird die Geschichte der tanzbegeisterten Lillian, die sich aus Las Vegas aufmacht, um sich in Europa auf die Spuren ihres großen Vorbilds Isadora Duncan zu machen. Duncan, die als Mitbegründerin des modernen Tanz gilt, kam in den dreißiger Jahren auf tragische Art ums Leben: Ihr Schal verfing sich in den Speichen ihres Cabrios. Lilian begibt sich in einem alten Volvo Amazon auf ihre Spur, durchquert Europa und findet natürlich nichts von dem, was sie ursprünglich gesucht hat. Dafür entdeckt sie eine Welt jenseits der Sehenswürdigkeiten und Attraktionen. Und genau das spiegelt der Soundtrack zu Night Of The Amazon (9:pm Records) auf sympathische Weise wieder. Musikalische Perlen zwischen Hammond-Orgel und LoFi-Pop, zwischen Freestyle und One-Man-Country-Blues. Beim Hören der stilsicheren Zusammenstellung, entsteht ein klischeefreier Roadmovie voller Wärme und mit soghafter Eigendynamik.

Marcus Peter

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  Ausgabe 10 - 2001