Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Lieblingssprünge im eigenen Kopf

Projektionsfläche Berlin, Stand 1981

„Berlin ist die Essenz. So wie Paris und New York Essenzen sind. Da ist zu lange Zeit zu viel geschehen, da häufen sich die Spuren." Diese Sätze von Barbara König, sie könnten auch im letztes Jahr erschienenen konkursbuch 38 stehen, das mit seinem Titel Sehnsucht Berlin einmal mehr die Hauptstadt als das Thema der deutschen Literatur beschwört. Irritieren würde in der konkursbuch-Anthologie allerdings das „und trotzdem", mit dem die Betrachtungen zur Metropolen-Essenz beginnen. Der Text von Barbara König steht in einem „Bild-Text-Band", der vor genau 20 Jahren veröffentlicht wurde. Den Titel Berlin, ach Berlin, würde man heute wohl ironisch lesen, als Stoßseufzer eines Hauptstadtbewohners, der vom publizistischen Hype der Stadt etwas angenervt ist, gleichzeitig aber doch zufrieden und überzeugt, am Nabel der Welt zu wohnen. „Und jetzt wieder Weltstadt!" so hebt denn auch das Vorwort zur Sehnsucht Berlin an. Wenn man heute als jemand, der sich für einen Künstler oder Schriftsteller hält, nicht in Berlin lebt, sieht man sich im Erklärungsnotstand und wird in eine Berlin-Haßrolle hineingedrängt wie die nach München gegangene Drehbuchautorin Natja Brunckhorst, eine gebürtige Berlinerin, die in der Anthologie aus dem Jahr 2000 diese Rolle spielt. Nur gleichgültig darf einem die Stadt nicht sein. Zumindest in Deutschland, denn schon im westeuropäischen Ausland haben beileibe nicht alle so große Sehnsucht nach Berlin.

Vor 20 Jahren lagen die Dinge noch anders: Gerade mal die Hälfte der zur Berlin-Anthologie beitragenden Autoren lebte damals in der Stadt. Unter Rechtfertigungszwang standen die, die auf der Insel Westberlin ausharrten. „Ja, leben, bleiben, warum in Berlin", sinnierte Walter Höllerer, dessen Hamburger Besucher in der Stadt ein Museum der fünfziger Jahre erblickte. Herausgeber Hans Werner Richter, wohnhaft im Baden-Württembergischen, plaidiert in seinem Vorwort immerhin standhaft für Berlin als die legitime Hauptstadt: „Bonn wird nie eine Metropole werden, und weder Hamburg, noch München, noch Düsseldorf werden je einen Metropol- oder Hauptstadtcharakter annehmen." Richter blikkt sentimental zurück auf das Berlin der Weimarer Republik, „das Berlin unserer Jugend". Walter Höllerer schreibt: „Manche Berlin-Betrachter vollführen Lieblingssprünge im eigenen Kopf: Der große Sprung zurück in die zwanziger Jahre. Sie sind hell angestrahlt." Die Zwanziger-Jahre-Nostalgie, sie wurde dann auch in den neunziger Jahren wieder aufgewärmt.

Heute wie damals war Berlin gut als Projektionsfläche. Im Vergleich zum Metropolengehabe und „Berliner Republik"-Gefasel der Jetztzeit haben die alten Texte etwas angenehm Unaufgeregtes, atmen eine gepflegte Melancholie. Damals hatte man noch Zeit zum Nachdenken, bevor man seine Berlinbilder und -projektionen in die Welt setzte. Melancholie verbreiten auch die Schwarzweißfotos, die Hinterhöfe und Plattenbauten zeigen, und natürlich rückt immer wieder die Mauer ins Bild. In Berlin, ach Berlin finden sich Texte der in den Westen übergewechselten, ehemaligen „DDR-Autoren" Uwe Johnson, Christa Reinig und Günter Kunert, mit Rolf Schneider kam ein in der DDR gebliebener Autor zu Wort. Sein Beitrag trägt den Titel „Ich bin kein Berliner".

Nicht alles hat sich verändert in den 20 Jahren. So manche Beobachtung könnte der Schweizer Gast Gerold Späth auch heute noch machen: „Polizei. Ein Riesenaufgebot. Es wimmelt grünlich ringsum. Als sei ein Nest in der Nähe." Der einzige Autor, von dem Beiträge in beiden Anthologien stehen, in Sehnsucht Berlin und in der alten, ist der aus der Türkei stammende Aras Ören, damals wichtiger Exponent einer sogenannten Gastarbeiterliteratur. Der Text von Günter Grass, mittlerweile kein Berliner mehr, kann auch nach 20 Jahren noch Aktualität beanspruchen. „In Kreuzberg fehlt ein Minarett" ist er überschrieben und will „vom Kreuzberg aus eine Utopie entwerfen".

Auch Ingrid Bachérs Aussage ist weiterhin gültig: „Berlin ist eine Stadt im Osten."

Peter Stirner

Hans Werner Richter (Hg.): Berlin, ach Berlin. Quadriga Verlagsbuchhandlung Severin und Siedler, Westberlin 1981

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