Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
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Ein ganzes Zeitalter verbrachte ich ohne Lyrik

Zollerklärung: Bora Cosic im Berliner Exil

Dieser späte Gedichtband ist eine Überraschung, denn Bora Cosic, der bald 70jährige serbische Schriftsteller, ist als Lyriker bislang noch nicht hervorgetreten. Man kennt ihn in Deutschland als Verfasser satirischer Grotesken wie Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution oder essayistischer Prosa wie Musils Notizbuch, und richtig kennt man Cosic eigentlich erst seit Mitte der neunziger Jahre. Nach seiner ersten deutschsprachigen Veröffentlichung 1969 vergingen fast dreißig Jahre, ehe sich Rowohlt Berlin für Cosic interessierte, damals noch engagiert in Sachen osteuropäische Literatur. Der Tod eines Freundes Anfang 2000 hat eine Lyrikproduktion in Gang gesetzt, die nun in einem Band der vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD herausgegebenen Reihe „Spurensicherung" vorliegt.

Der Gedichtband Die Toten bildet zusammen mit dem zeitgleich bei Suhrkamp erschienenen Prosabuch Die Zollerklärung eine erste Bestandsaufnahme des Berliner Exils. Bereits 1992 hatte Cosic Belgrad in Richtung Kroatien verlassen, 1995 führte ihn schließlich ein DAAD-Stipendium nach Berlin, wo er seither hauptsächlich lebt.

Die letzten Berliner Jahre waren für ihn eine Zeit des Bilanzierens. „Seit kurzem redigiere ich mein Leben", heißt es in einem Gedicht aus Die Toten; „Ich lege jetzt meine persönliche Geschichte vor, als wäre ich mein eigener Historiker", lesen wir in Die Zollerklärung: Für den Zoll muß Cosic aus dem Gedächtnis ein Verzeichnis seiner bereits in Kisten verpackten Bibliothek anfertigen. Dabei vergegenwärtigt er sich vergangenes Leben und vergangene Lektüre in seinem südosteuropäischen Land, schweift immer wieder von seinem Thema ab, um sich etwa die Frage zu stellen, ob er auch das Nichtstun und die viele verschlafene Zeit seiner jungen Jahre verzollen müsse. Der Blick zurück auf diese Biographie eines Mitteleuropäers im 20. Jahrhundert ist melancholisch: „Das Menschenleben ist eine Deponie", schreibt Cosic, „eine Ansammlung abgenutzter und kaputter Dinge, die auch schon bevor sie diese verachtenswerte Form angenommen haben, eine Anhäufung von Unbrauchbarem darstellten, einen Müllberg des Daseins."

Rückschau aus der Distanz des Berliner Exils hält auch der Lyrikband Die Toten. Anders als die assoziationsreiche Prosa der Abschweifung in Die Zollerklärung übt Cosic sich in den Gedichten in Verknappung und Zuspitzung. Die Texte sind in freiem Parlando gehalten, Übersetzer Benno Meyer-Wehlack spricht in seinem Nachwort von „Stille" und „Offenheit". Eine beigegebene Skizze verortet die Gedichte in der Topographie des heutigen Berlin. Das Zentrum bildet die Charlottenburger Sybelstraße, Wohnort des Autors.

„Ich weiß nicht, bis wohin reicht das Gedicht", fragt Bora Cosic skeptisch. Gewidmet sind die Texte „den toten Freunden und allen Verschwundenen". „Ich kann nicht versprechen", so schließt das knappe Vorwort, des späten lyrischen Débuts, „daß ich mit meinem neuen Handwerk so bald wieder aufhören werde."

Florian Neuner

Bora Cosic: Die Toten. Das Berlin meiner Gedichte (Aus dem Serbischen: Irena Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack). Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin 2001. 16,80 DM

Bora Cosic: Die Zollerklärung (Aus dem Serbischen: Katharina Wolf-Grießhaber). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 17,90 DM

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