Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
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Eine Art Einziger

Carlfriedrich Claus ist vielleicht der Bekannteste unter den unbekannten Künstlern der ehemaligen DDR. Sein Werk ­ er selbst hätte es, so wie sein ganzes Leben, eher als Experiment bezeichnet ­ zwischen Sprache und Zeichnung breitet sich in einem künstlerischen Kosmos aus, der als einzigartig gelten darf.

Ich entdeckte ­ viel zu spät! ­ seine großartigen Artikulationen, ein Grobian könnte sie „visuelle Poesie" nennen, 1998 in der „Deutschlandbilder"-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Im Raum gestaffelte Transparentblätter von unfaßbarer Intensität, beidseitig zumeist mit Tusche be... ja, nun was? bezeichnet? beschrieben?, explosiv und filigran zugleich. Worte kräuseln sich ähnlich Papillarlinien an anderen Worten entlang, umschwärmen und entsinnen sich: Text wird zur Textur, Sprachzeichnung zu Zeichensprache jenseits des semantischen Horizonts.

Claus' Blätter offenbaren einen Diskurs, den ein überreiches, uferloses Denken mit sich selbst und mit der Welt führt. Die Bewegung der Gedanken im Spannungsfeld von Politik, Kunst, Natur und Gesellschaft wird offengelegt, als Versuch, sich der Wirklichkeit anzunähern – einer Wirklichkeit, die „zahllose Gesichter hat, von denen keines alleingültig, keines ganz wahr ist" und dem Unartikulierten, Nichtaussprechbaren einen angemessenen Raum bietet.

Der 1930 in Annaberg im Ergebirge geborene Claus nannte seine Bilder „Manuskripte", die er „redigierte": emotionales Erfassen und rationales Aufschreiben durch den Gebrauch seiner Hände. Seiner „Schreibhand und Denkhand": Meistens gebrauchte er sie zugleich, seit er ­ sieben Jahre nach seinen ersten Aquarellen und Gedichten ­ 1951 das beidhändige Schreiben entdeckte.

In diese Zeit fielen seine ersten Versuche experimenteller Poesie. Es folgte 1955 ein längerer Briefkontakt mit Hans Arp, der sich (erfolglos) um eine Veröffentlichung der Lautgedichte Claus' bemühte. 1959 gelangte das Tonband Sprechexerzitien mit experimenteller Lautprosa in die Hände Franz Mons. Aus dem Briefkontakt wurde dauerhafte Freundschaft. Claus verstärkte seine Kontakte mit zeitgenössischen Künstlern in ganz Europa. Die Stasi begann ihn zu beobachten und störte durch Verschwindenlassen von Briefen und Buchsendungen nachhaltig seine Kontakte zu Künstlern im Westen. Bis in die achtziger Jahre galt er als antisozialistisch, sogar antihumanistisch. Claus ließ sich nicht beirren, lebte weiter im seinem selbstgewählten Asyl, einer mit Büchern vollgestopften Hinterhauswohnung und setzte seine Suche nach der „Porosität des Bewußtseins" fort.

Ende der fünfziger Jahre verlagerte Claus seinen Arbeitsschwerpunkt weg von der Lautdichtung, hin zum Typus der Sprachblätter. Eine wichtige Erfahrung war das beidhändige und auch gegenläufige Schreiben: Er bemerkte, wie sich dabei der „psychische Haushalt" veränderte und körperliche wie geistige Spannungen entstanden. Typisch für ihn: das Verschränken körperlicher Phänomene mit seinem Denkprozeß, auch als Kollision der Prozesse. Dann begann er, die Blätter von der Rückseite zu beschreiben und gewann so eine neue Dimension. Schließlich ging er dazu über, Transparentpapier zu verwenden: Er bemerkte das „autoaktive Einwirken der rückseitigen Strukturen in die vorderseitigen und umgekehrt" und begeisterte sich an der „blattimmanenten Dialektik".

Trotz teils gesellschaftsutopischen Inhalts sind Claus' „Denklandschaften" eher Nicht-Orte: Er bestand auf der prinzipiellen Diskontinuität von Zeit und Geschichte, lineare Fortschrittsdogmen waren ihm fremd. So finden sich in seinen Arbeiten gleichzeitig Lesbares, Kaum-Lesbares und Nicht-mehr-Lesbares überlagert und verwoben. Nicht zuletzt das trennt ihn von anderen Schrift-Künstlern wie z. B. Cy Twombly.

Claus ist zudem Künstler und Gelehrter in einem: „Er steht mit etwa einem Dutzend Wissenschaften im Stoffwechsel und treibt Höhlenforschung bis in die mythischen Tiefen hinab, während allenthalben Fachidiotismus es sich gut gehen läßt." (Henry Schumann) Mit zwölf Jahren entdeckt er für sich das Hebräische (in Nazideutschland!), das er später immer wieder in seine Blätter einbaut. Er beschäftigt sich bereits als Jugendlicher mit der Kabbala und liest Heine, Carl Einstein, D. H. Kahnweiler, Marx und Bloch. Wenn man alles be-denken, begreifen will, gibt es keine akademischen Grenzen. Carlfriedrich Claus war interdisziplinär jenseits des modischen Gebrauchs.

„Die exakteste, weil unwillkürlich und simultan entstandene Autobiographie ist aus meinen Arbeiten selbst erschließbar, seit Anfang der fünfziger Jahre. Auseinandersetzung und Wechselwirkungen des papillarlinig versuchenden Lebens stehen unmittelbar „da". Experimentelle Existenz in experimenteller Arbeit: die Bedingungen unter denen sie geschieht, sind in den Ergebnissen aufgehoben. Gegenwart."

Carlfriedrich Claus starb viel zu früh am 22. Mai 1998 in Annaberg.

Sascha Brossmann

EInformationen und Bilder:

www.oben.de (Galerie Oben, Chemnitz: Künstlerverzeichnis mit Biografie, Abbildungen etc.)

Carlfriedrich Claus:
„Denklandschaften" (Katalog 1993),
erhältlich für 35 DM in der ifa-Galerie,
Linienstraße 139/140, Mitte

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