Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
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Diesseits des Textschlunds

Visuell, konkret: Revolutionäre Dichtung und Kunstgewerbe ­ ein Rückblick

Blättert man in den beiden Anthologien, die Eugen Gomringer, der „Vater der konkreten Poesie" (Emmet Williams) herausgegeben hat, konkrete poesie (1972) und visuelle poesie (1996), so wird man einige Mühe haben, die Bereiche konkret und visuell sinnvoll voneinander abzugrenzen. Gomringer sagt es auch selbst: „es sind in den meisten fällen seh-gegenstände, seh-texte, die unter dem überbegriff ,konkrete Poesie' angeboten werden." Diese hätte sich denn auch immer vornehmlich als eine „visuelle poesie" verstanden. Prof. Karl Riha hingegen erklärt die visuelle Poesie zu einer „Programmsparte" der konkreten Poesie. Gomringer schreibt: „während die konkrete poesie die anschauung im wort, d.h. begrifflich, konzentriert, geht die visuelle poesie umgekehrt vor: sie macht begriffliches anschaulich. visuelle poesie illustriert." An dieser Stelle würde Gerhard Rühm aufschreien, der illustrative Verdopplungen als tautologisch ablehnt.

Von Rühm gibt es ein Buch mit dem Titel visuelle poesie, das Arbeiten aus vier Jahrzehnten vereinigt. Wenn man einen gemeinsamen Nenner für die ganze Bandbreite seiner visuellen Poesie finden wollte, die teilweise sogar die Gattungsgrenze zur Musik hin überschreitet ­ Rühm selbst spricht von Textbildern ­ so könnte man von graphischen Arbeiten sprechen, in denen Schrift eine herausgehobene Rolle spielt; „unverzichtbar jedoch sind auf alle fälle die anteile an schrift!", sagt auch Gomringer, der als Autor das Ideal einer knappen, „von aller umständlichkeit befreiten lyrischen information" verfolgt. Rühm kombiniert Photos mit Texten, fertigt Collagen aus Zeitungsschnipseln an, reduziert Texte durch Übermalung oder setzt auf Notenpapier kalligraphische Spuren. In jedem Fall entsteht im Grenzbereich zwischen den Gattungen und Medien eine neue Aussage, jenseits von tautologischer Bebilderung.

In der Zeit um 1968, als die politische Relevanz von Literatur ein Thema war, gab es neben den lautstarken Wortführern wie Enzensberger auch „Konkrete", die ihr ästhetisches Konzept von der Politik her begriffen. Der Werbegraphiker Gomringer höhnte über die, welche „zwar alles verändern möchte(n), im übrigen aber sprache sprache sein" lassen. Chris Bezzel wollte damals „dichtung und revolution" zusammenbringen: „indem dichtung eine dialektik objektsprache ­ metasprache in gang setzt und durchhält, widersteht sie nicht nur medial und inhaltlich der wirklichkeit, sondern antizipiert auch in jedem augenblick eine neue: die der revolution." Nachzulesen ist Bezzels Text im Text+Kritik-Band Konkrete Poesie I von 1972. Dem „perfekten Systemganzen" Alphabet suchte man den Buchstaben als „ein Ding für sich" entgegenzusetzen (Franz Mon). Auf einer Fläche freigesetzt, „jenseits des Alphabetsystems, diesseits des Textschlunds" gerät der Buchstabe in einen Prozeß „protosprachlicher Anreicherung" ­ Reflexion des Buchstabenmaterials: damals sehr stark von der mechanischen Schreibmaschine her gedacht, etwa den gleichmäßigen Abständen zwischen den Lettern, der Möglichkeit, sie unter- und übereinander zu schreiben; Rühm spricht von einer „poetik der schreibmaschine". Eine Poetik des PCs oder des Macs scheint darauf freilich nicht gefolgt zu sein, auch wenn jeder Privatier heute die aufwendigsten Layout- und Bildbearbeitungsoperationen durchführen kann. Uwe Warnkes, des Berliner Verlegers und Autors Auffassung, visuelle Poesie könne heute noch ein „Dorn im Fleisch der Sprache" sein, mutet da schon fragwürdig an. Eine von Franzobel edierte „Anthologie gegenwärtiger visueller Poesie" (1993) trägt den albernen Titel KRITZI KRATZI und zeigt mit dieser forcierten postmodernen Ironie bereits an, was es geschlagen hat: Das Spiel mit Text und Bild, mit Piktogrammen und kalligraphischen Spuren findet meist statt als beliebiges Kunstgewerbe, bar jeglicher Sprengkraft, und die Grauzone zwischen den Künsten bedeutet auch oft, weder als Text, noch als graphische Arbeit wirklich bestehen zu müssen.

Peter Stirner

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