Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Keine Frage!

Das Erste Berliner Comicfestival weckt den Appetit auf mehr

Ein bißchen war es wie Weihnachten. Wochen vorher rumpelte und rumorte es in den Druckwerkstätten, und pünktlich in letzter Minute zogen sämtliche Berliner Comiczeichner mindestens eine neue Publikation aus den Umhängetaschen. Faszinierend, welchen Produktivitätsschub das Erste Berliner Comicfestival vom 6. bis 9. September, das eigentlich das zweite ist, ausgelöst hat. Vor zwei Jahren fand im Hof des Pfefferberg das Vorläuferfestival „Comicgarten" statt. Die eintägige Veranstaltung war so gut besucht, daß man für das Nachfolgemodell in der Kulturbrauerei die höchsten Erwartungen hegen durfte.

Es regnete. Es war kalt. An Marktständen im Hof präsentierten am Freitag (am Samstag im engen Kesselhaus) über 40 Groß-, Klein- und Kleinstverlage ihre äußerst verschiedenen Programme. Üblicherweise stehen in den Comicläden anspruchsvolle, eigenwillige Hefte hinten in der Schmuddelecke, ganz so, als müßte man in einer Buchhandlung erst über Berge von Ärzte- und Vanessa-Romanen stapfen, um irgendwo lesbare Literatur zu finden. Das Comicfestival versöhnte das getretene Herz des Comicenthusiasten, denn die wenigen Mainstream- und Superheldenhefte waren leicht zu übersehen.

Man delektierte sich an den berserkerhaften, Art-Brut-inspirierten Siebdruckbüchern des französischen Verlags Le Dernier Cri, dem kleinen feinen Programm der Belgier Bries, verschiedene Hochschulen zeigten eine Auswahl ihrer Illustrationsarbeiten, der Schweizer Edelverlag Edition Moderne feierte 20jähriges Jubiläum und brachte einen seiner großartigsten Zeichner, José Munoz, als Gaststar mit. Einen weiteren Überraschungsgast bescherte dem Festival ein blutjunges Berliner Unternehmen namens avant-verlag, es lud den Italiener Stefáno Ricci zum Signieren seiner wunderbar atmosphärischen Bilderzählung Anita. Stefáno Ricci allerdings signierte nicht, er malte mit Ölkreiden auf die Vorsatzseiten seiner Bücher, kreiste mit dem Bleistift solange über das Papier, bis es durchlöchert war. Die Besitzer der Bücher sahen ergriffen zu.

Parallel veranstaltete die Neue Gesellschaft für Literatur eine prominent besetzte Vortragsreihe zur Frage „Erzählen in Bildern / Comic als literarische Form?" In die Programmankündigung für Samstag schlich sich ein Druckfehler, das Symposium hieß nun "Erzählen in Bildern / Comic als literarische Form" ­ ohne Fragezeichen, das Problem war innerhalb nur eines Tages gelöst worden, wie ein Referent scharfsinnig bemerkte.

Der Zeichner Max Andersson befand die Frage simpel als „nicht sehr interessant". Für ihn ist Literatur etwas, das man liest, gleichgültig, ob man nun Bilder liest oder einen Text. In seiner Heimat Schweden kann er wie die schreibenden Literaten um Kulturförderung ansuchen. Voraussetzung für eine Subvention ist es, ein Buch gemacht zu haben und in der Bibliothek zu stehen. Literatur ist demnach etwas, das in der Bibliothek steht.

Matti Hagelberg, der finnische Schab-kartonartist sagt von sich: „When I am doing comics,
I feel like writing comics, even when
I am drawing."

Es scheint, als habe die Frage, ob Comics denn Literatur seien, einzig mit der ­ nicht unwichtigen ­ Frage nach dem Geld zu tun. Im deutschsprachigen Raum ist es fast unmöglich, für eine künstlerische Arbeit eine öffentliche Förderung zu bekommen, wenn man diese leichtsinnigerweise als Comic bezeichnet. Vom freien Markt ist ebenfalls keine Gerechtigkeit zu erwarten (siehe oben). Also machte die Comic-Avantgarde in den Achtzigern auf die Verwandtschaft des Comic zum Film aufmerksam, beides Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts. In den Neunzigern lautete der Schlachtruf „Comics sind Kunst". Heute versucht man es mit der Literatur. Letztendlich greift die befreiende Erkenntnis Raum, daß eine gelungene Comicerzählung etwas ganz Eigenständiges ist. Der Comic-Zeichner arbeitet mit Stilmitteln aus der bildenden Kunst, aus Literatur und Film und spricht doch eine eigene Sprache mit unverwechselbarer Syntax.

Comics stehen an der Schnittstelle von Wort und Bild, von Statik und Animation, Stummheit und Lärm. Der Malerei hat der Comic die Sequentialität voraus. Vom phasenverschobenen Körperbild bis zu eingefrorenen Momenten kann der Comic eine Vielfalt verschiedener Zeitwahrnehmungen variieren, kann zerdehnen, straffen, beschleunigen, all die dramaturgischen Mittel einsetzen, die auch ein Schreiber zur Verfügung hat. Weil Comics aber kein Daumenkino sind, bleiben auch die „abgelesenen" Bilder für den Betrachter sichtbar. Bilder, Bildreihen und Seitentableaus verschmelzen in einer ungleichzeitigen Gegenwart. Die visuelle Gestaltung der Seiten, die Gliederung der Geschichte, Bild und Text verbinden sich in einem Rhythmus, der den Leser gleichsam durch die Seiten trägt.

UL

Berliner Neuerscheinungen:

Stefáno Ricci / Gabriella Giandelli:
Anita. avant-verlag,
www.avant-verlag.de
34 DM

Raoul / H. Cava: Berlin 1931.
avant-verlag. 39 DM

Tim Dinter/Kai Pfeiffer: Alte Frauen. Zwerchfell Verlag, www.zwerchfell.com
16,80 DM

Kathi Käppel: Die Muschel und der Prinz. monogatari, www.monogatari.de
30 DM

Elke Steiner: Rendsburg Prinzenstrasse.
www.dassortiment.de
12 DM

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