Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Montags grüne Kartoffeln, dienstags Sauerkohl

Die Stadt als leerer Bauch: 100 Jahre Versorgungs- und Speisegeschichte Berlins

Um 1900 hat Julius Jacob die Gruppe blau gekleideter Frauen mit ihren Strohhüten und den großen, mit blauem Stoff bedeckten Kiepen gemalt: Fest zusammengerollte Regenschirme obenaufgeschnallt, kommen sie dem Betrachter entgegen, die Arme in die Seiten gestützt oder im Gehen strickend. Es sind die „Werder'schen" aus dem bekannten Obstanbaugebiet im Havelland, die ihre Äpfel und Kirschen über staubige Landstraßen zum Verkauf nach Berlin tragen. Als dieses nostalgische Bild entstand, schafften jedoch längst vor allem Eisenbahn und Dampfschiff heran, was die enorm expandierende Metropole täglich verschlang. Sehen kann man die „Werder'schen" zur Zeit in einer Ausstellung in der Domäne Dahlem. Sie führt vor, was getan wurde, um die schwierige Versorgung des „riesigen Bauchs" Berlin zu sichern und wie sich Speisekarte und Eßgewohnheiten der Städter im 19. Jahrhundert wandelten.

Die Geschichte vom „Bauch Berlin" ist zunächst eine von dessen chronischer Leere: Selbst der „Siegeszug der Kartoffel" konnte akute Hungersnöte, dauernde Unterernährung, Brotunruhen und Kartoffelkrawalle nicht verhindern. Spekulation, Wucher, Mißernten, Versagen der städtischen Fürsorge ­ die Liste der Gründe für die prekäre Lage ist lang, sie besserte sich nur langsam. Die Kost der kleinen Leute blieb monoton: Roggenbrot, billige Blutwurst, Kartoffeln und Hülsenfrüchte, dazu Dünnbier und Kartoffelschnaps. Einziger Luxus war ein Ersatzkaffee aus Zichorien. Während man in bürgerlichen Familienzeitschriften wie der Gartenlaube noch 1872 Bilder vom Elend in den Slums am Kottbusser Damm abdruckte, hatte deren Leserschicht durchaus die Mittel, übers bloße Sattwerden hinaus zu tafeln. Zwar war das Alltagsessen eine preußisch organisierte Angelegenheit mit Gerichten im Wochenrhythmus ­ „montags grüne Kartoffeln, dienstags Sauerkohl, donnerstags ein Erbsengericht mit Schweinefleisch ..." ­ doch Konditorware, Speiseeis, Spargel, Pasteten oder Meeresfrüchte wurden ebenfalls, gerne auch außer Haus, eingenommen. Andere wurden gezwungen, auswärts zu essen: Wegen ihrer Schichten waren Industriearbeiter zunächst auf den „Henkelmann" oder obskure Wirtschaften angewiesen, in denen man statt einer Mahlzeit die dort über viel zu heißer Suppe verbrachten Minuten bezahlte. Dies änderte Lina Morgenstern, die in ihren wohltätigen Volksküchen schmackhafte Suppen und Eintöpfe anbot. Die Sorge um Hygiene, Qualität der Lebensmittel und vor allem um Zeitersparnis bei ihrer Beschaffung und Zubereitung führten schließlich dazu, daß auch Berlin 1886 einen Ort bekam, der den berühmten Pariser Halles entsprach: die Zentralmarkthalle am Alexanderplatz mit eigenem Eisenbahnanschluß. Sie löste logistische Probleme bis hinunter zum Grünkramhändler vom Laden an der Ecke, der sich dort schnell und billig für den Weiterverkauf eindecken konnte. Bauten, die der Nahrungsversorgung dienen, verschwanden nach ihrer Schließung oft schnell aus dem Stadtbild: Vom ersten Großschlachthof zwischen Brunnen- und Ackerstraße, mit dem sich der Eisenbahnkönig Strousberg 1870 heftig verspekulierte, ist nichts mehr zu sehen, und wer die Atmosphäre des Marktes vom Alex kennenlernen will, muß sich heute auf die Spuren Franz Biberkopfs begeben ­ oder nach Dahlem.

Annette Zerpner

„Berlin – ein riesiger Bauch. Hungerkrisen und Versorgung einer Metropole", bis zum 31. Dezember im Freilichtmuseum Domäne Dahlem, Königin-Luise-Str. 49, Mi-Mo 10-18 Uhr

Die ausgezeichnete Kurzdokumentation „Essen früher und heute: Ernährungsrevolution in Deutschland" wird ab 11 Uhr alle zwei Stunden gezeigt

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