Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Demonstranten im Visier

Die Berliner Polizei dreht Videofilme

Auf vier Plakaten sind je zwanzig junge Männer und Frauen abgebildet, von vorn, im Profil, im Halbprofil. Einige der Fotos wurden mit einem Filzstift durchgestrichen. Die Plakate hängen in jeder Meldestelle und sind nicht zu übersehen. Auch die B.Z. hat sie veröffentlicht. Die Aufnahmen zeigen meist Porträts, einige die ganze Gestalt. Die Fotos sind von hoher Qualität, die Gesichter gut zu erkennen. „Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe", lautet die Aufforderung, mit der die Bildergalerien überschrieben sind. Nach den Personen wird öffentlich gefahndet. Die Polizei hat eine Belohnung von 1000 DM für zielführende Hinweise ausgesetzt.

Öffentliche Fahndungen sind nicht neu. Regelmäßig veröffentlicht die Polizei Phantombilder und bittet die Bevölkerung darum, die Augen offen zu halten, um Verbrechen aufzuklären oder die Identität von Opfern zu ermitteln. Im vorliegenden Fall werden jedoch nicht Mörder und Räuber gesucht, sondern mutmaßliche Steinewerfer. Die Aufnahmen sind Standbilder aus Videofilmen, die auf der letzten 1. Mai-Demo in Kreuz- berg gemacht wurden, in deren Verlauf es wieder einmal zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei kam.

Bei ihren Bemühungen um Identifikation der Gesuchten blieben die Ordnungshüter nicht erfolglos. Beate Beck-mann vom „Ermittlungsausschuß" berichtet, mittlerweile seien 14 der abgebildeten Personen ermittelt worden. Zwei wurden von Polizeibehörden in Westdeutschland gemeldet. Die zwölf Berliner wurden laut Beckmann von Unbekannten angezeigt oder sie stellten sich selbst ­ angesichts der öffentlichen Fahndung hätten sie keine Alternative mehr gesehen. In einem Fall sollen die Großeltern ihren Enkel bei der Polizei gemeldet haben. Zwar seien gegen die 14 Demonstranten Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch eingeleitet worden, verhaftet habe man jedoch noch keinen, wundert sich Beckmann. Man habe Schlimmeres befürchtet.

Viel Lärm um nichts also? Der Aufwand, den die Berliner Polizei betreibt, um der Gesuchten habhaft zu werden, steht in einem eigentümlichen Mißverhältnis zur Relevanz der Anschuldigung, an den Krawallen am Mariannenplatz beteiligt gewesen zu sein. Die Polizei behandelt den Steinwurf als Kapitalverbrechen. Es hat den Anschein, als wolle sie ihre Einsatztaktik bei Demonstrationen rechtfertigen: Seit vielen Jahren gehören Kamerateams zum festen Bestandteil des Polizeiaufgebots, weiß eine Aktivistin zu berichten, die nicht genannt werden will. Ein Beamter steht auf einem Einsatzwagen mit einer Art Dachgarten und nimmt das Geschehen auf. Auf diese Weise werden Daten gesammelt, mit denen die Polizei bislang vermutlich wenig anfangen konnte. Die aktuelle Fahndung belegt ihren Willen, die bisher geringe Effizienz endlich zu steigern.

Aber nicht nur die Polizei hält fest, was bei Demonstrationen geschieht. Wie die Aktivistin weiterhin sagt, stehen am Straßenrand häufig Zivilpersonen und machen ebenfalls Film- und Fotoaufnahmen. Je nach Route plazierten sie sich auch auf Brücken oder hinter Fenstern. Die Motivation dieser Privatdokumentation sei häufig nicht erkennbar. Und wenn in naher Zukunft beispielsweise am Kottbusser Tor Kameras fest montiert würden, komme diese Form der beiläufigen Videoüberwachung noch hinzu, meint sie.

Ob man die Fahndungsaktion als Erfolg bezeichnen kann, ist zweifelhaft. Die Plakate hängen mittlerweile seit mehreren Monaten in den Dienststellen. Die Zahl der Identitätsfeststellungen ist im Vergleich zur Zahl der Gesuchten jedoch eher gering, die Verurteilung der Ermittelten steht noch aus. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Polizei führe eine Art Rachefeldzug – als ärgere sie sich darüber, daß der Gegner alljährlich unbehelligt davonkommt. Darüber, daß so viel Energie auf die Befriedigung verletzter Eitelkeiten verwendet wird, könnte man gerade noch hinwegsehen, wenn mit dieser Aktion nicht eine neue Qualität der polizeilichen Videoüberwachung erreicht worden wäre. Die Erfahrung mit der Leipziger Videoüberwachung lehrt, daß die Eingriffsschwelle zu-nächst hoch sein mag – jedoch gesenkt wird, sobald der Gewöhnungseffekt eingetreten ist.

Benno Kirsch

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