Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Plötzlich sind sie da

Videoüberwachung, Seuche im Polizeistaat

Ein aufgelassenes Ladenlokal in der Boxhagener Straße: DJ-Pult, junge Men- schen mit Beck's-Flaschen, über die Wand flimmert ein Videofilm; sieht aus wie eine beliebige „Kunstaktion". Dieser 7. September aber ist der internationale Aktionstag gegen Videoüberwachung. Die Kasseler Initiative SaferCity hat im Friedrichshain ein offenes Bu- reau eingerichtet. Initiator Thomas Brunst stellt seine Webseite vor, für die er unermüdlich Material zu den neusten Ausgeburten des Überwachungsstaats sammelt.

In der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in der Oranienstraße konnte man sich in den Räumen der Ausstellung hybrid video tracks am selben Abend über Initiativen aus aller Welt informieren, die auf die sich seuchenartig ausbreitende Überwachung öffentlicher Räume durch Videokameras aufmerksam machen wollen. Auch diese Seuche wütet am schlimmsten in Großbritannien. Nicht nur die City of London ist längst flächendeckend videoüberwacht, der Kontrollwahn hat auch Problemgebiete wie den Stadtteil Brixton erfaßt. Die Experten sprechen von einem „im System begründeten Expansionsverhalten"; einige Firmen müssen ganz gut daran verdienen. Dabei bringen die vielen Kameras bei der Verbrechensbekämpfung erwiesenermaßen kaum etwas. Es geht um Symbolisches, um Einschüchterung und Disziplinierung, wofür auch schon mal Kameraattrappen zum Einsatz kommen. Von den meisten Bürgern ist die Videoüberwachung aber anscheinend akzeptiert; ein Unternehmen wie die BVG kann damit werben, so das „subjektive Sicherheitsgefühl" der Fahrgäste zu erhöhen.

In Deutschland begann die „optische Überwachung" 1958: Eine Verkehrszentrale in München konnte über bewegte Bilder von 17 Orten verfügen; 1964 rüstete die Münchner Polizei mit einer „mobilen Fernsehaufnahmeanlage" auf. Leipzig startete 1996 ein
Pilotprojekt zur Videoüberwachung von „Kriminalitätsschwerpunkten", am Hauptbahnhof von Frankfurt am Main sind heute 120 Kameras installiert.

In der NGBK wurden u.a. die „Surveillance Camera Players" aus New York vorgestellt, die es mit ihren Aktionen vor Überwachungskameras bis in die CNN-Nachrichten geschafft haben. Vom Thema Überwachung hat man in letzter Zeit hauptsächlich im Kunstkontext vernommen – man denke etwa an Harun Farocki. Ein öffentlich diskutiertes Thema ist der Überwachungsstaat seit der Debatte um den „Lauschangriff" nicht mehr. Bezeichnend, daß Initiativen, die sich der Problematik annehmen, am „International Surveillance Webcam Action Day" gar kein anderes Podium für ihre Anliegen finden als den von ihnen gar nicht unbedingt angestrebten ästhetischen Rahmen. In der NGBK hat auch Tina – eine Berliner Künstlerin, die nicht mit vollem Namen genannt werden will – ihr Projekt vorgestellt. Ein Aufenthalt im überwachungstechnisch hochgerüsteten London hat ihren Blick für die Problematik geschärft. Sie erwartet, daß Berlin in den nächsten Jahren dem britischen Beispiel nacheifern wird. In der Gegend um den Nordbahnhof hat sie Stellen ausfindig gemacht, an denen sie in naher Zukunft mit Videokameras rechnet und dort Plakate geklebt, auf denen stilisierte Kameras abgebildet sind. Tinas Kameraplakate liegen in der NGBK aus, und sie wünscht sich, daß sich möglichst viele an der Suche nach potentiellen Orten beteiligen. Und plötzlich sind dann die richtigen Kameras da. Tina spricht von einer „Modeerscheinung". Sie rechnet auch damit, daß der Alexanderplatz bald wieder videoüberwacht sein wird – wie das bereits zu DDR-Zeiten der Fall war.

In London experimentiert man derweil schon mit automatischer Gesichtskennung. Der Wahn wird nicht zu stoppen sein. Simon Davies vom Londoner Institut für Computersicherheit: „Der nächste Schritt werden Identifikationsstellen in Kaufhäusern oder am Eingang von Geschäftszentren sein. Betritt ein bekannter Dieb den Laden, identifiziert ihn das System und schlägt Alarm. Und warum sollte man bei den Dieben aufhören?"

Florian Neuner

Weitere Informationen:
www.aktuelle-kamera.org
www.safercity.de

Am 30. September findet ein „Stadtspaziergang gegen Videoüberwachung" statt. Treffpunkt: 14 Uhr am U-Bhf Mohrenstraße, vor dem ntv-Gebäude.

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