Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Krankfeiern für die Gesundheit

Das Sozialamt Neukölln ist hoffnungslos überfordert

Wenn in letzter Zeit über Sozialhife gesprochen wird, dann verweist man gerne mit einigem Stolz darauf, wie viele Stützeempfänger wieder aus dem „Leistungsbezug" gefallen sind. Ein Wettbewerb unter Kommunalpolitikern scheint ausgeschrieben zu sein: Wer die meisten Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt, hat gewonnen. Vor noch gar nicht so langer Zeit galten die sozialen Sicherungssysteme als Garant für den „sozialen Frieden" hierzulande. Inzwischen hält man sich lieber Augen und Ohren zu und tut so, als hätte Armut keine Konsequenzen. Das Sozialamt Neukölln ist ein anschauliches Beispiel dafür, daß dies ein Irrtum ist.

Mit über 40000 Sozialhilfeempfängern gehört es zu den größten Deutschlands und darüber hinaus zu den als besonders schikanös verschrienen. Im letzten Sommer gelangte beispielsweise eine langjährige Praxis des Amtes ans Licht der Öffentlichkeit, die bundesweit ihresgleichen sucht: Schüler, die ihr 18. Lebensjahr erreicht haben und deswegen eigenständig Sozialhilfe beantragen mußten, erhalten in den Ferien kein Geld mehr ­ sie könnten schließlich arbeiten gehen (scheinschlag 6/2000). Noch mehr als solche offensichtlichen Ungerechtigkeiten aber sind es die vielen kleinen alltäglichen Gängeleien, die im Sozialamt Neukölln dazu geführt haben, daß regelmäßig Sachbearbeiter bedroht oder verprügelt werden. Um dem Einhalt zu gebieten, hat der für Personalfragen zuständige Stadtrat Michael Freiberg (CDU) Anfang des Jahres 19 Überwachungskameras für 200000 Mark in zwei Fluren anbringen lassen. Seitdem sind die Angriffe im Sozialamt seltener geworden ­ dafür gibt es jetzt mehr davon im Jugendamt.

Die zum Schutz der Mitarbeiter eingeführte Videoüberwachung lehnt deren Interessensvertretung ab. Die Personalratsvorsitzende Marga Richter-Beier moniert insbesondere, daß damit die Kollegen bei der Arbeit zu kontrollieren wären. Stattdessen fordert sie Neueinstellungen und verbesserte Arbeitsbedingungen. Daß die Beschäftigten des Sozialamts völlig überfordert sind, haben sie bereits offen ausgesprochen: 95,6 Prozent erklärten namentlich, daß sie unter den herrschenden Arbeitsbedingungen nicht mehr fach- und sachgerecht arbeiten können und werden. Ob neue Stellen allerdings überhaupt zu besetzen wären, und wenn, ob die neuen Leute dann auch tatsächlich kämen, ist mindestens fraglich. Wer möchte schon im Sozialamt Neukölln arbeiten und sich die Fresse polieren lassen?

Die derzeitig dort mit Arbeitsverträgen Ausgestatteten jedenfalls nicht. Die sind zu einem nicht unerheblichen Teil krank. Und zwar in einem Umfang, der dazu führt, daß Anträge auf Sozialhilfe monatelang nicht abzugeben sind oder einfach nicht bearbeitet werden. Während dieser Zeit bekommen die Betroffenen selbstverständlich kein Geld. Man fragt sich, wie sich diese solange ernähren und warum es noch keine Toten dort gegeben hat. Als sich im Mai mehrere Hundert seit Monaten unbearbeitete Akten angesammelt hatten, sollten die noch anwesenden Kollegen sich darum kümmern. Auf Anraten von Beate Schuh, Juristin von Verdi, haben sie das verweigert, um Fehlentscheidungen und damit verbundene Schadensersatzforderungen wegen grober Fahrlässigkeit seitens des Landes Berlin zu vermeiden. Die Lösung, die sich in dem Konflikt zwischen Personal und Amtsleitung anbot, war die, einfach alle betroffenen Vorgänge als Neufälle zu betrachten ­ die Anträge galten somit als nicht gestellt.

Ob Videoüberwachung oder mehr Personal, letztlich berühren keine Vorschläge zur Verbesserung der Situation im Sozialamt das eigentliche Problem, die Armut. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Beschäftigungsgesellschaft Bequit gGmbH in der Briesestraße über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen genügend Hilfspolizisten einstellt, um den Rest des Bezirks in Schach zu halten, ist momentan größer, als daß die tatsächlichen Ursachen angegangen würden. Das Bezirksamt Neukölln hätte dazu auch gar nicht die Macht. Armut ist die Folge eines asozialen Wirtschaftssystems. Wer hier die nächsten Verschärfungen der Sozialpolitik durchsetzen soll, darauf darf man gespannt sein.

Søren Jansen

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