Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Vorzugsadresse Neukölln

Interview mit Peter Boltz, Mitarbeiter der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land, Arbeitsgruppe Rollberg-Siedlung

Sie beschäftigen sich mit Vermietung in Nord-Neukölln und haben als Sozialarbeiter und Mitarbeiter der Wohnungsbaugesellschaft Einblick in sozialstrukturelle Daten. Lassen sich in Nord-Neukölln Zu- oder Abwanderungsbewegungen beobachten?

Nord-Neukölln ist, ähnlich wie Kreuzberg, bereits seit dem zweiten Weltkrieg ein Viertel, aus dem Besserverdienende abwandern. Innerhalb Neuköllns ziehen Wohlhabendere tendenziell Richtung Süden: seit den sechziger Jahren in die Neubausiedlungen in Britz Süd, in den Siebzigern in die Gropiusstadt sowie in Einfamilienhäuser in Britz, Buckow und Rudow. Wenn in Nord-Neukölln statistisch etwas auffällig ist, ist es heute vor allem Armut – mehr noch als ein hoher Ausländeranteil. Im Sozialen Wohnungsbau gibt es eine starke Nachfrage von Arbeitslosen, vor allem aber von Sozialhilfeempfängern. Diese Nachfrage stellen auch Bewohner aus anderen Bezirken.

Hat sich diese Nachfrage über die letzten zehn Jahre verändert?

Die Nachfrage von Sozialhilfeempfängern ist recht konstant geblieben. Was sich verändert hat, ist die Sicht auf diese Nachfrage. Vor zehn Jahren hat sich niemand aufgeregt, wenn wir Sozialhilfeempfänger einziehen ließen. Es war völlig akzeptiert, daß die Bewohner des Sozialen Wohnungsbaus zu einem großen Teil Sozialhilfeempfänger sind. Als Unternehmen wurden wir gerade in die Pflicht genommen, sozial Schwache aufzunehmen. Heute gilt die politische Vorgabe zumindest in den Gebieten mit Quartiersmanagement, den Anteil an Sozialhilfeempfängern nicht weiter steigen zu lasen. Denn ein hoher Sozialhilfeempfängeranteil bewirkt nach dem Soziologen Hartmut Häußermann einen sogenannten Fahrstuhleffekt, der verhindert werden soll.

Nach unserer Statistik hat der Anteil an Sozialhilfeempfängern nicht wesentlich zugenommen. Erhöht hat sich dagegen der Arbeitslosenanteil. Die Arbeitslosigkeit in Nord-Neukölln liegt bei etwa vierzig Prozent. In der ganzen Europäischen Union gibt es wenige Gebiete mit ähnlichen Prozentzahlen. Ganze Gruppen ausländischer Arbeitnehmer, vorwiegend Frauen, sind wegen des Wegfalls von Industriearbeitsplätzen nach der Wende arbeitslos geworden. Es ist viel von ethnischen Konflikten die Rede. Meiner Auffassung nach geht es hier mehr um Armut.

Der Begriff „Fahrstuhleffekt" suggeriert eine negative Entwicklung. Gibt es denn tatsächlich Konflikte, wenn der Anteil an Sozialhilfeempfängern oder Arbeitslosen im Wohngebiet hoch ist?

Es gibt Konflikte, wenn sich die Lebensrhythmen der Bewohner stark unterscheiden. Ein Schichtarbeiter muß früh aufstehen, ein Nichtarbeitender nicht. Diese Konflikte gab es jedoch auch schon vor zehn Jahren.

Was für Folgen sehen Sie für diese Wohngebiete, würde politisch ernsthaft die Sozialhilfe in Frage gestellt werden?

Kaum vorstellbar. Es gibt sehr verfestigte Sozialhilfestrukturen. Manche ethnischen Gruppen leben zu einem sehr hohen Prozentsatz von Transferleistungen und haben sich langfristig auf diese eingestellt. Würde die Sozialhilfe in Frage gestellt, würde das bei den Leuten eine fundamentale Verunsicherung auslösen. Ich kann mir kaum vorstellen, was mit ihnen geschehen sollte. Denn die Arbeitsplätze, die sie einnehmen sollten, sind real nicht vorhanden.

Was für Zuzüge gibt es nach Nord-Neukölln?

Die Wohngebiete hier haben den Ruf ethnischer Toleranz. Es gibt kaum allgemeinen Rassismus. Eher differenzieren die Leute nach dem Verhalten und nicht nach der Ethnie ihrer Nachbarn. Daher gibt es Mietinteressenten, bei denen dieses Kriterium ausschlaggebend ist. Diese Nachfrage ist realtiv unabhängig vom Einkommen. Nord-Neukölln gilt für Nichtdeutsche generell als guter Wohnort. Aus den östlichen Berliner Bezirken sowie aus Brandenburg gibt es, meiner Einschätzung nach, eine Zuwanderung aufgrund dieses Kriteriums.

Läßt sich eine Zuwanderung von Ostberlin nach Nord-Neukölln beobachten?

Abgesehen von der genannten ethnisch motivierten Zuwanderung, würde ich sagen, lassen sich zwei weitere Kriterien der Zuwanderung beobachten ­ wobei ich dazu nicht über statistische Daten verfüge. Es gibt zum einen Leute aus den östlichen Randbezirken, die meist wegen des Arbeitsplatzes citynah wohnen wollen. Diese Leute ziehen auch nach Nord-Neukölln. Zum anderen gibt es Fälle aus der östlichen Innenstadt, vorwiegend aus Prenzlauer Berg und Mitte, die angeben, aufgrund von Sanierung und Mietentwicklung verdrängt worden zu sein. Für diese Bewohner dürfte generell der günstigere Wohnungsbestand im Altbau attraktiver sein. Aber auch bei der Stadt und Land, die eigentlich durch den Sozialen Wohnungsbau ein recht hohes Mietniveau hat, gibt es solche Bewerbungen. Erst kürzlich hatte ich eine Bewerberin, die angab, ihre Miete in Mitte sei nach der Sanierung extrem gestiegen. In der Folge seien von sechzehn Mietparteien zwölf weggezogen. Wenn aufgrund dieser Dynamik die alte Umgebung ohnehin wegbricht, sehe sie keinen Anlaß mehr, unbedingt im Gebiet zu bleiben und könne auch gleich einen ganz neuen Wohnort suchen. Solche Zuzüge kommen meiner Einschätzung nach eher von Ex-DDRlern, deren Vorurteile gegen Neukölln weniger stark sind.

Interview: Tina Veihelmann

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 09 - 2001