Ausgabe 09 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Abweichende Linienführung

Die deutsche Revolution, so höhnte einst Kurt Tucholsky, habe wegen schlechter Witterung in der Musik stattgefunden, und man darf schon die Frage stellen, zu welchem Ende das tonale System gesprengt und der Schritt in die anarchische Freiheit getan, ein Modell geschaffen ward, auf dessen Umsetzung in der außerästhetischen, gesellschaftlichen Realität wir seitdem warten ­ jetzt schon seit über 90 Jahren. Für die „Wiener atonale Revolution" steht der Name Arnold Schönbergs, dessen Todestag sich in diesem Sommer zum 50. Mal jährt. Nun war aber gerade dieser Schönberg keineswegs ein esoterischer, weltabgewandter Musiker, sondern in einem geradezu emphatischen Sinne ein Mann der Praxis. Zeugnis davon legen nicht nur seine Autobahnkonzepte für Los Angeles oder der Plan eines Tennislehrbuchs aus den späten Exiljahren ab. In seiner Zeit als Berliner Kompositionsprofessor wandte er sich mit dem Entwurf eines Umsteigefahrscheins an die Direktion der Berliner „Strassenbahn-Betriebs Gesellschaft". Nicht auszudenken, wo die BVG heute stehen könnte, hätte Arnold Schönberg am 1. Dezember 1927 nicht vergessen, den Brief mit seinem Konzept zu frankieren! Der abergläubische Komponist und Verkehrsplaner hat auf dem Umschlag später notiert: „Die Strassenbahn hat die Annahme verweigert; ich habe es als einen Wink des Schicksals angesehen und habe ihn nicht wieder abgesendet." Zu einer Zusammenarbeit zwischen Schönberg, der in dem Brief noch „weitere Eventualvorschläge" angeboten hatte, und der BVG ist es also nie gekommen, die Revolution, die sein Engagement im Berliner öffentlichen Verkehr zweifellos ausgelöst hätte, bis heute ausgeblieben.

Wie weit Schönberg auch als Verkehrsplaner seiner Zeit voraus war, sieht man an seiner Idee, eine „auf eine gewisse Zeit beschränkbare" Umsteigekarte einzuführen; Zeitkarten wurden in letzter Zeit ja auch in Berlin als neuartiges Konzept verkauft. Der Fahrscheinentwurf des Komponisten besticht auch ästhetisch: Konzentrische Kreise sollten die Wochentage andeuten. „Der Schaffner", erläutert Schönberg, „knipst in der Uhr in den Ring des betreffenden Wochentages die Zeit des Einsteigens, welche auf mindestens
10 Minuten genau angezeigt werden kann." Jede Linie sollte Scheine ausgeben, „welche die Strecke und Richtung und die Nummer angeben (zB 58 Halensee-Linden resp. Linden-Halensee)."An jedem Monatsersten wollte er die Numerierung der Scheine neu beginnen lassen. Der Komponist, der die revolutionäre Gleichberechtigung der 12 chro- matischen Halbtöne établiert hatte, zögerte nicht, diesen Gedanken auch auf die Berliner Buslinien auszudehnen: „Bei Linien mit schwächerem Verkehr werden regelmäßig so oft 100 oder 1000 Nummern entfallen, bis auf allen Linien im Durchschnitt zu gleicher Tagesstunde die ungefähr gleichen Nummern laufen."

Und selbst die Preiskalkulation Schönbergs war, denkt man an die Desperados in der gegenwärtigen BVG-Chefétage, vorbildlich: 10 Pfennig sollte eine direkte Fahrt kosten, für jedes Umsteigen wollte er weitere 10 Pfennig verlangen.

Florian Neuner

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