Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Elektro Kino, nicht politisch

Eine Reise ins frühe Dokumentarkino

„Ich sehe Straßen, Menschen, die vorübergehn, sehr schnell trotz aller Behaglichkeit, manche bleiben stehn und unbeteiligt schaun sie unter ihren australischen Mützen her zu mir." Die Möglichkeit, sich per „Kinematographentheater" als Voyeur dem Alltag am anderen Ende der Welt zu nähern, faszinierte Max Brod 1909 mehr als die inszenierten Sensationen früher Spielfilme. Bevor das Reisen zur Massenbewegung und Photo und Film allgegenwärtig wurden, begann das Unbekannte, Exotische für die meisten Menschen bereits kurz hinter der eigenen Stadtgrenze: Die dokumentarischen Kurzfilme aus den Jahren 1905-1927, die das Museum für Europäische Kulturen jetzt in einer Ausstellung vorführt, befriedigten in erster Linie die Neugier auf Lebens- und Arbeitswelt der nahen Fremde.

Mit der Rekonstruktion von Filmmaterial, Projektoren und Rezeptionsbedingungen früher Dokumentarfilme hat das Museum in Zusammenarbeit mit jungen Restauratoren, Kommunikationsdesignern und Museumskundlern der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ein Stück vernachläßigte Filmgeschichte erfahrbar gemacht. Man betritt die Ausstellung durch einen „Zeittunnel", der schlaglichtartig die Sozialgeschichte des Kinos beleuchtet. Irene Ziehe, Volkskundlerin am Haus, erläutert das Konzept: „Wie das damalige Publikum unternimmt auch der Besucher eine Reise an einen exotischen Ort: Die Annäherung an fremde Sehgewohnheiten, an die Bildsprache einer vergangenen Epoche." Das Gefühl, lediglich einen eingeschränkten, kurzen Blick auf Fremdes werfen zu können, soll präsent bleiben. Die Ausstellungsarchitektur setzt dieses Thema geschickt um: Reihen kleiner Ausschnitte im dunkelblauen Überzug der Vitrinen, an die gelochten Ränder von Filmstreifen erinnernd, geben eine knappe Sicht auf Exponate frei, ermöglichen aber manchmal auch überraschende Durchblicke in andere Teile der Ausstellung.

Die Ästhetik der frühen Dokumentarfilme ist gewöhnungsbedürftig: Sequenzen aus dem Bereich „Arbeiten", die Korken- oder Käseherstellung zeigen, haben weder sozialkritischen Hintergrund noch didaktische Gliederung und wirken wie Rohmaterial für die „Sendung mit der Maus". Die Bereiche „Posieren" und „Reisen" lassen ahnen, daß die Filmer noch nicht ganz daran gewöhnt waren, daß die Bilder jetzt laufen konnten. Diese Filme erzählen keine Geschichten – in der Tradition von Landschaftsmalerei und -photographie, der Bilderbögen und der von einem Volksfest zum nächsten wandernden „Panoramen" sind sie vielmehr ganz der Schaulust verpflichtet: Das also ist der Hafen von Barcelona, so machen sie unsere Korken, und den Milchkarren zieht in Holland ein großer Hund! In einem typischen Kino wie dem „Saale des Herrn Schorns", der auf seinem Plakat „Elektro Kino, nicht politisch" verspricht, war nach den „Natur- und Weltereignissen" noch lange nicht Schluß der Vorstellung. Es folgte weitere Unterhaltung in Spielfilmformat – „prachtvolle Weltdramas: Wilhelm Tell, Das alte Testament, Kaiser Josef II. und die blinde Tischlertochter ..."

Restaurierte Kameras, Korkenfabrikation und Kanufahrt mit Kürbissen (Spreewald, 1920) können noch bis zum 28. Oktober besichtigt werden.

Annette Zerpner

„Exotic Europe – Reisen ins frühe Kino", Museum Europäischer Kulturen, Im Winkel 6-8, Dahlem, Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr,
www.smb.spk-berlin.de

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