Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Die Kunst des Möglichen

Aus der Werkstatt des Pianisten Tomas Bächli

Ein lauer Juliabend, die Türen und Fenster der Klavierwerkstatt David Balzer in der Stargarder Straße sind zum Hof hin geöffnet: Überall lagert Publikum, flaniert durch die schick renovierten Höfe, Bierflaschen in der Hand oder Weingläser. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein beliebiges „Szene"-Ereignis im Prenzlauer Berg ist bei näherem Hinhören doch eine ernsthafte Kunstanstrengung. Der Pianist Tomas Bächli hat bei „freiwilligem Eintritt" zu einem Klavierabend geladen, um endlich eine alte Idee zu realisieren: die Kombination von Bachs Goldberg-Variationen mit Saties Sports & Divertissements, wohl erstmals in einem Konzertprogramm. Zwei Stücke zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn, wie Bächli erläutert, die es beide unternehmen, Systeme aufzubauen, um sie dann entsprechend zu strapazieren, gar zu demolieren. Die beiden Werke von 1914 und 1742 beleuchten sich gegenseitig: Erik Satie, oft als „Blödmann" der Musik abgestempelt, erweist sich als handwerklich unanfechtbarer Meister, Johann Sebastian Bach wird etwas von seinem Heiligenschein genommen, Spielerisches wird sichtbar, auch Humoristisches. Bächli schickt seiner Interpretation eine knappe Einführung voraus. Während der Aufführung läßt er Zettel verteilen, die auf das Volkslied „Kraut und Rüben haben mich vertrieben" verweisen, auf das in der 30. Variation angespielt wird.

Tomas Bächli, 1958 in Zürich geboren und bei Werner Bärtschi ausgebildet, tritt in erster Linie mit neuer Musik in Erscheinung. Er ist einer der wenigen Interpreten der monumentalen Klaviersonate von Jean Barraqué, hat Werke von Erich Itor Kahn oder Giuseppe Englert aufgeführt. Er ist es gewohnt, an Stücke unvermittelt heranzugehen ­ Stücke, die noch keine Interpretationsgeschichte haben, wenn er sie nicht überhaupt zum ersten Mal aufführt. So versucht er auch an ein Werk wie die Goldberg-Variationen heranzugehen, um eine in den Tempi flexible Interpretation jenseits der Dogmen historischer Aufführungspraxis wie auch romantisierender Tendenzen zu erreichen ­ ein Blick zurück vor dem Erfahrungshorizont der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesentlich überzeugender als die Aufführung von András Schiff neulich in der Philharmonie sei Bächlis Wiedergabe gewesen, meinte nach dem Konzert zu mir ein Komponist.

Dabei ist Bächli nicht unbedingt ein strikter Gegner des traditionellen Konzertbetriebs. Ein Klavierabend Maurizio Pollinis etwa, auch in der Philharmonie, mit Liszts h-moll-Sonate letztens habe ihn sehr angeregt. Dennoch sieht Bächli seinen eigenen Platz woanders. Der affirmative Rahmen des philharmonischen Konzertabends sei dem Klavier eigentlich unangemessen, das doch immer ein Experimentalinstrument gewesen sei. Wo aber gibt es heute noch Raum für künstlerische Experimente?

Tomas Bächli ist durch die harte Schule New Yorks gegangen, wo er von 1996-98 gelebt hat. Im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" könne man tatsächlich alles machen, was man wolle – allerdings ohne die geringste Chance, damit auch nur einen Cent zu verdienen. Außerhalb kleinster Reservate an einigen Universitäten kommt neue anspruchsvolle Musik in den USA schlicht nicht vor. Die Nachkriegsavantgarde, selbst bekannte Leute wie John Cage oder Eliott Carter, mußte ihr Geld denn auch immer in Europa verdienen, während die renommierten amerikanischen Orchester Stücke mit dem Niveau schlechter Filmmusik in Auftrag gaben. In dieser Situation sind private Werkstattkonzerte oft die einzige Möglichkeit, zumindest eine kleine Öffentlichkeit zu erreichen. Dieses Konzept hat Bächli nun mit nach Berlin gebracht. Zwar ist die hiesige Situation von der amerikanischen noch meilenweit entfernt, und der Schweizer ist auch gerne wieder nach Europa zurückgekehrt, doch stehen die Zeichen auch im deutschen Kulturbetrieb allenthalben auf Deregulierung. In seinem Studio in der Boxhagener Straße 16 in Friedrichshain hat Bächli die Möglichkeit, unabhängig und notfalls ohne finanzielle Unterstützung zu konzertieren. Wenn er Lust habe, etwas auf dem Klavier zu spielen, dann wolle er das unkompliziert und ohne Umwege auch realisieren können. Und ob Bächlis nächstes Projekt Förderer finden wird, steht noch dahin. Die Schweizer Auslandskulturförderung Pro Helvetia springt nur ein, wenn eidgenössische Komponisten aufgeführt werden. Ende des Jahres jedenfalls will Bächli in einer Konzertreihe Herbert Brün im Kontext seiner Schüler und Weggefährten präsentieren. Den gebürtigen Berliner Brün, der 1936 vor den Nationalsozialisten flüchten mußte, lernte Bächli noch kurz vor dessen Tod 2000 in New York kennen. Dieser widerständige Geist, der seit den sechziger Jahren an der University of Illinois in Urbana unterrichtete, ist hierzulande selbst dem Fachpublikum kaum bekannt und, wie Bächli vermutet, der einzige jüdische Komponist, der auch im Alter nicht zu einer Goodwill- bzw. „Wiedergutmachungsaktion" nach Berlin eingeladen wurde. In Brüns Musik, die oft „mit Klängen von extremer Häßlichkeit operiert", so Bächli, fehlten eben nicht nur „Schönklänge traditionellen Zuschnitts, sondern auch viele Platitüden der Nachkriegsavantgarde". Ein Unbeugsamer zwischen den Stühlen, der immerhin stolz von sich sagen konnte: „I never had a cup of coffee with a bastard."

Foto: Mathias Königschulte

Um Herbert Brün wird es auch in einer Veranstaltungsreihe gehen, die Tomas Bächli in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Weißensee in seiner Friedrichshainer Werkstatt anbietet: Transatlantik – Musik zwischen Europa und Amerika. Einerseits haben amerikanische Komponisten wie Cage, Feldman, Wolff oder Tenney das „Künstlerbild der Europäer ins Wanken gebracht", andererseits haben europäische Emigranten wie eben Brün oder Stefan Wolpe in den USA als Lehrer gewirkt und nachfolgende Generationen beeinflußt. Bächli wird, wie er das auch schon in einem Kurs über die Goldberg-Variationen unternommen hat, diese Musik vom Klavier aus spielend erläutern. Sein großer Anspruch: Die Analysen müßten erfaßbar sein auf jedem Bildungsniveau. Gerade bei neuer Musik sei das Informationsgefälle zwischen dem Publikum, das ein Stück meist zum ersten Mal höre und dem Interpreten, der daran ein halbes Jahr gearbeitet habe, oft beträchtlich. Diesen Vorsprung wolle er behutsam abbauen. In Abgrenzung zu herkömmlichen Einführungen und Programmhefttexten, die oft nur schlecht kompilierte Sekundärliteratur darstellen, versucht Bächli von dem Prozeß seiner eigenen Aneignung des Notentextes auszugehen: Verfremden, Verlangsamen, Weglassen oder Hervorheben einzelner Stimmen – alles Vorgänge, die dem arbeitenden Pianisten geläufig sind und die er nun gemeinsam mit dem Publikum vollzieht, immer wieder die Fragen aufwerfend: „Was passiert hier eigentlich? Was mach ich jetzt als nächstes?"

Auf die Frage, wo er beachtenswerte Tendenzen gegenwärtigen Komponierens sehe, kommt der Pianist auf die mikrotonale Musik zu sprechen. Das temperierte System der zwölf Halbtonschritte befinde sich in Auflösung, ohne daß noch absehbar wäre, wohin der Weg führe. Eine völlig offene Situation, ähnlich der zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das tonale System zerbrach. Heute höre man schon an jedem Kebab-Stand mikrotonale Musik, viele Komponisten benutzten Mikrotonalität als koloristischen Effekt. Tomas Bächli hat sich der Vierteltonmusik verschrieben und bildet seit beinahe 20 Jahren zusammen mit Gertrud Schneider ein „Vierteltonduo": „eine von vielen Möglichkeiten, aus dem vertrauten Tonraum auszubrechen". Die beiden Klaviere sind in sich „normal" gestimmt, jedoch verschoben um einen Viertelton, zusammengespielt wird nach dem „Reißverschlußprinzip". Bächli und Schneider geben abendfüllende Komzerte mit Vierteltonmusik, das Repertoire reicht von Ivan Wyschnegradsky und Charles Ives bis zu György Kurtág und Gerd Zacher.

Aber Bächli möchte sich auch um anderes kümmern, etwa mehr um Repertoire des 19. Jahrhunderts, besonders um Chopin. Denn gerade romantische Musik werde heute vielfach falsch aufgeführt, es herrsche die irrige Annahme, man wisse sowieso, wie das geht. Als Pianist sei man in Repertoirefragen gezwungen, sehr selektiv vorzugehen, das Leben sei einfach zu kurz. Wenn man Fagott spiele sei das natürlich anders. Man müsse auch nicht immer gleich das Gesamtwerk eines Komponisten, alle Sonaten aufzuführen, davon halte er auch nichts.

Eine Aktion, die am 8. September in Bern stattfindet, käme auch in der bankrotten deutschen Hauptstadt gerade recht. Unter dem Motto Die Kunst des Möglichen lädt Bächli zu einem ungewöhnlichen Wettbewerb: „Klaviervirtuosen spielen auf einem kaputten Klavier" ­ eine Initiative, die „in neue Dimensionen des effizienten Einsparens knapper und knappster Mittel" führen könnte. Den Termin in der Zunft zu Webern sollte sich Adrienne Goehler jedenfalls vormerken.

Florian Neuner

Der Volkshochschulkurs „Transatlantik – Musik zwischen Europa und Amerika" beginnt am 1. November in der Boxhagener Straße 16, Friedrichshain, 2. Quergebäude, 3. Etage.
Kontakt und Informationen unter: 44009176 oder 29049300.

Eine CD des Vierteltonduos Bächli/Schneider mit Werken u.a. von Ives, Moser, Jordi und Wyschnegradsky erscheint demnächst in der Edition Grammont.

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 08 - 2001