Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Mobilität ist alles!

Wer wie ich von etwa 1000 Mark Hilfe im Monat lebt, weiß, welchen Klang das Wort „Mobilität" in unseren Ohren hat. Mobilität! Geschwindigkeit! Die Slogans der Bahn wie „Wir bringen sie im Schlaf ans Ziel, mit Sicherheit!" lösen bei uns jenes Glücksgefühl aus, das die Werbetexter hervorzukitzeln suchen. Schade, daß wir nicht zur Zielgruppe gehören.

Das 1000-Mark-Budget ist eine unselige Angelegenheit. Die Väter des Sozialstaats haben sich einst gedacht, der Stützeemfänger lebte bescheiden, aber versorgt von einem „Warenkorb" mit Brot, Käse, Zahnpasta und Toilettenpapier. Um dem Bedürfnis nach Unterhaltung gerecht zu werden, stellt man ihm einen Fernseher dazu. Und für seine Mobilität bekommt er in Berlin eine vergünstigte U-Bahn-Karte für die Zonen A und B. Allein – das Konzept geht nicht auf.

Das Problem am 1000-Mark-Budget ist nicht etwa, daß man hungerte, sondern, daß es einen beständig vor unlösbare Entscheidungen stellt. Geiz ist eine unwürdige Sache ­ also muß man in der Kneipe einen ausgeben und zum Essen einladen. Zum 15. des Monats ist dann das Geld alle und man verkauft seine vergünstigte Monatskarte, Zone A und B, an jemanden, der einem ähnlich sieht. Wer arm ist und nicht arbeitet, ist aber um so mehr auf soziale Kontakte angewiesen. Und in der Großstadt damit um so mehr auf: Mobilität!

An dieser Stelle fängt der Terror an. Die Benutzung der BVG ist mit dauernden Adrenalinausschüttungen verbunden. Das häufige, laute „Guten Tag, meine Damen und Herren" von irgendwo aus den langen gelben U-Bahnröhren, macht einen fertig. Meistens ist es nur ein Motz-Verkäufer. Erreicht man endlich sein Ziel, ist man mit den Nerven am Ende und nicht mehr ansprechbar. Man hätte ebensogut zu Hause bleiben können.

Bleibt der Erwerb eines Fahrrads aus der Zweiten Hand: Damenrad, Dreigangschaltung, leicht defekte Bremse für 50 Mark. Der kaputten Bremse wegen fahre ich langsam und immer schön auf dem Radweg. So geht es doch auch. Gestern erfahre ich nun, daß die Berliner Bürgersteig-Radwege „Todesfallen" sind! Drei Viertel der tödlichen Fahhradunfälle ereignen sich auf jenen Radwegen, deren Benutzung die Polizei jedoch vorschreibt. Es scheint einem keine Chance zu bleiben. Sei's drum. Wir leben in einer Risikogesellschaft. Risikobereitschaft, Flexibilität und Mobilität sind alles. Manchmal benutze ich sogar wieder die BVG.

Karla Drais

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  Ausgabe 08 - 2001