Ausgabe 08 - 2001 berliner stadtzeitung
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Gipfelstürmer auf Heimaturlaub

Nach Genua redet die hiesige Linke hauptsächlich über Polizeigewalt

Wie lange konnten wir ein solches Ereignis nicht mehr bewundern: die Oberhäupter der sieben größten Volkswirtschaften der Welt treffen sich samt Gefolge, um sich zu beratschlagen ­ und draußen, vor den Toren, tobt das Volk ­ Hunderttausende begehren wütend Einlaß. Die Demonstrationen anläßlich des G8-Gipfels in Genua gehören ganz bestimmt zu den machtvollsten der letzten zehn Jahre in Europa. Sie stellen den vorläufigen Höhepunkt einer weltweiten Bewegung dar, die sich anschickt, sich der sonst unangefochtenen neoliberalen Heilslehre entgegenzustellen. Seit der erfolgreichen Stö-rung der Konferenz der Welthandelsorganisation in Seattle 1999 fand kein größeres Treffen zur Erörterung der ökonomischen Spielregeln mehr ohne ernsthafte Störung statt. Ob in Prag, Québec oder Göteborg, jedesmal dominierten gewalttätige Proteste die Veranstaltungen. Dabei gewinnt die Bewegung offenbar eine Dynamik, die unter den Eliten eine gewisse Nervosität hervorruft. Bereits in Göteborg schoß die Polizei scharf, in Genua hat sie nun einen Menschen getötet und es ist ein Wunder, daß es nur einer war.

Diskussionsthemen in den einschlägigen Berliner Kreisen sind vorwiegend das ausgesprochen brutale Vorgehen der Polizei und die Unterstützung der in Italien im Knast Sitzenden. Das ist verständlich: Über die Hälfte der noch inhaftierten 41 Menschen sind Deutsche, viele davon aus Berlin. Häufig ist zu hören, die Polizeiexzesse erinnerten an lateinamerikanische Diktaturen. Das mag stimmen, aber man braucht gar nicht so weit zu gehen. Ähnlich wüteten die Carabinieri schon einmal im Italien der späten siebziger Jahre und ließen über 1000 Menschen für Jahre hinter Gittern verschwinden. Einschüchterung gehört zum Geschäft der Herrschaftssicherung. Bemerkenswert an Genua ist, daß all die widerwärtigen Szenen vor den Augen der versammelten Weltöffentlichkeit stattfanden. Die Berliner Gruppe „fels" bemerkt dazu, die deutsche Debatte im Blick: „Die ausschließliche Betonung der maßlosen Repression läuft Gefahr, die großartigen Demonstrationen von Genua im Nachhinein geradezu als politischen Mißerfolg erscheinen zu lassen und abschreckend zu wirken."

Auffällig ist die Berichterstattung in der Presse. Nach den Protesten gegen den EU-Gipfel in Göteborg dehnte beispielsweise die Berliner Zeitung die Bedeutung eines Begriffs aus der Welt des Fußballs auf die Globalisierungsgegner aus. Statt von Chaoten wurde nun von Hooligans gesprochen. Hintergrund ist die nach der Fußball-WM in Frankreich ins Leben gerufene sogenannte Hooligan-Kartei, mit deren Hilfe die Grundrechte der Betroffenen eingeschränkt werden dürfen. Auf dieser Grundlage wurden auch Reiseverbote für Genua-Reisende erlassen. Auch in den ersten Tagen nach den Todesschüssen erwies sich die Berliner Zeitung als willfährige Helferin der Polizei. Von überforderten Polizisten schrieb sie, deren angsterfüllte Gesichter hinter ihren Gasmasken zu erkennen gewesen sein sollen. Erst, als die Lügen zu offensichtlich wurden, schwenkte man um, schilderte die Details der Polizeigewalt, zeigte mit dem Finger auf Italien und forderte im Brustton der moralischen Entrüstung den Einsatz einer internationalen Untersuchungskommission.

Dabei wurde in Genua ein fast perfektes Medienspektakel dargeboten, von allen Seiten. Auf der einen Seite die Herren der Welt in einem Boot im Hafen, verschanzt hinter Containern und beschützt von tausenden schwerbewaffneten Polizisten ­ ganz in schwarz. Auf der anderen Seite ein bunter Haufen von 200000 Gegnern. Die auffälligsten, nicht ganz so bunt, der frisch aus dem Tiefschlaf erwachte „Schwarze Block" ­ ganz in schwarz ­ und die „Tutte Bianche" ­ ganz in weiß. Und überall Kameras. In der 532. Ausgabe der autonomen Berliner Wochenzeitung Interim bemerkt die Redaktion im Vorwort völlig zurecht: „Es hat Demonstrationen gegen die Treffen der Herrschenden schon seit Jahrzehnten gegeben. (...) Die Rechnung war immer folgende: friedlich gleich unbedeutend, militant gleich Schlagzeilen." In der medialen Fixierung liegt wohl auch einer der Schwachpunkte des deutschen Ablegers der Anti-Globalisierungsbewegung. Einerseits belegt Berlin in der aktuellen europäischen Militanzhitparade einen der vorderen Plätze, andererseits kennt man hier so etwas wie ernstzunehmende soziale Gegenwehr eigentlich nur noch vom Hörensagen. Dabei ist die Kritik an der uneingeschränkten Vorherrschaft der Ökonomie über das Leben durchaus verbreitet. Hierzulande scheint jedoch die Reinheit der eigenen Lehre wichtiger als gemeinsame Handlungsfähigkeit.

Für die junge weltweite Bewegung sind diese Gipfeltreffen dennoch wichtig. Wo sonst hätte sie sich überhaupt erst finden und als solche wahrgenommen werden können: In der Zwischenzeit muß aber auch etwas passieren, wenn die Ebene der bloßen Symbolik verlassen werden soll. In der Höhle des Löwen, in Italien, hat sich das Spektrum der Beteiligten seit den Ereignissen in Genua erweitert. Es fanden Massendemonstrationen im ganzen Land statt, an denen aus Italien selbst mehr Menschen teilnahmen, als bei den weltweiten Protesten in der ligurischen Hauptstadt. In Schulen und Krankenhäusern beginnen Aktionen gegen die Privatisierung der Bildung und der medizinischen Versorgung. 300 Anwälte haben sich im Genoa Legal Forum zusammengeschlossen, um ein internationales Tribunal zu organisieren, und der NATO-Gipfel am 26. und 27. November in Neapel wird vorbereitet. Dort werden mehr Menschen erwartet als während der Tage in Genua.

Søren Jansen

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