Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
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Ein unglücklicher Arbeitsloser

Wenn Politiker und sonstige Demagogen von der angekündigten „Modernisierung des Arbeitsmarktes" schwärmen, werden sie kaum noch ernstgenommen. Populistische Rhetorik zur „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" hatten wir schon mehr als genug. Dennoch geht es da nicht nur um Rhetorik. Eine Modernisierung findet ja durchaus statt, zum Beispiel im Neuköllner Sozialamt, wo die Besucher nun von Videokameras überwacht werden. Diese einzige Tatsache sagt mehr über die heutigen Zustände als die ganze „Faulheitsdebatte", welche in letzter Zeit Pflichtaufgabe für Feuilletonisten war. Sie ist Zeichen einer wachsenden Spannung. In Sozial- und Arbeitsämtern gären täglich Gewaltgelüste. Folgendes Fallbeispiel möge als Mahnung gegen eine drohende Entwicklung dienen.

Am Morgen des 6. Februar 2001 wurde in Verden/Aller der Direktor des dortigen Arbeitsamtes von Werner Braeuner, einem arbeitslosen Maschinenbauingenieur, durch zahlreiche Stiche am Kopf getötet. Braeuners einzige Einkommensquelle, die Arbeitslosenhilfe, war gerade gestrichen worden. Eine Stunde nach der Tat stellte er sich der Polizei. Gleich berichteten die lokale Presse und die allwissende Bild-Zeitung von einem kaltblütig geplanten Mord. „Er hat es getan, weil es ihm um ein politisches Fanal ging. Alle Umstände sprechen für eine politische Demonstration", so Braeuners Vermieter (!) im Weser-Kurier vom 8. Februar: „Seit mehr als sieben Jahren erwerbslos, habe er eine bessere Grundabsicherung der Arbeitslosen gefordert. So habe er sich auch im linken Netzwerk ,Hoppetosse' engagiert, das im Internet zu ,kreativem Widerstand gegen den Kapitalismus' aufruft." Hiermit war nicht nur eine Pogromstimmung gegen Braeuner erzeugt worden. Auch jeglicher Versuch, den Fall in seinem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, konnte nun als Rechtfertigung terroristischer Gewalt gelten. Die Einschüchterung scheint gewirkt zu haben: Seit Monaten schweigen alle alternativen Medien und Erwerbslosengruppen über Braeuners Mißgeschick, obwohl er in diesem Spektrum ein bekannter Aktivist war. Allein die französische Arbeitsloseninitiative AC! veröffentlichte eine Erklärung, die den Verzweiflungsakt mit dem allgemeinen psychischen Druck auf Langzeitarbeitslose verbindet und zu Solidarität aufruft. Hierzulande wurde die Geschichte erst im gerade erschienenen müßiggangster, der Zeitschrift der „Glücklichen Arbeitslosen", zur Sprache gebracht.

Braeuners Geschichte ähnelt der von vielen anderen Langzeitarbeitslosen: das knappe Geld., die miese Wohnsituation, Gesundheitsprobleme, Streitigkeiten mit der Freundin, Nervenzusammenbruch, Vereinsamung. Auf dem Arbeitsmarkt hatte der 46jährige Ingenieur kaum eine Chance. Im Juli 2000 bewarb er sich für eine vom Arbeitsamt vermittelte Ausbildung zum 3D-CAD-Konstrukteur. Dadurch, so seine Hoffnung, würde er aus der Klemme kommen – zumal er ein entsprechendes Arbeitsangebot hatte, das aber zu keiner Anstellung führte. Um so größer war seine Enttäuschung, beim Weiterbildungsträger „ABC" in Bremen zur wochenlangen Untätigkeit genötigt zu sein. Sechs Monate hätten für die reale Schulung ausgereicht, doch die Maßnahme dauerte zwölf Monate, also hingen die Teilnehmer die Hälfte der Zeit bloß, herum. Allmählich wuchs die Gewißheit, „weggeparkt" worden zu sein, bloß um die Arbeitslosenstatistiken zu beschönigen. Die empfundene Zermürbung hatte auch physische Folgen: Braeuner begann, unter heftigen Rückenschmerzen zu leiden. Ende November entschied er, die Schulung abzubrechen und schrieb Klaus Herzberg, dem Arbeitsamtschef, einen ausführlichen Begründungsbrief. Er ging davon aus, daß die dargestellten Gründe berücksichtigt würden. Doch als er Herzberg Mitte Januar persönlich traf, erklärte dieser, eine Sperre sei unvermeidlich, und brach die Diskussion trocken ab. An jenem Abend schrieb Braeuner erneut einen verzweifelten Brief an den Direktor: „Sie brechen mir damit das Genick. Und Sie tun das mutwillig." Als einzige Antwort erhielt er am 1. Februar den Bescheid über die Sperre. Von den Behörden in die Enge getrieben, scheint der ohnehin psychisch angeschlagene Braeuner wirklich in Verzweiflung geraten zu sein. Er fing an zu trinken und hatte Selbstmordgedanken. Am Morgen des 6. Februar wollte er zum Sozialamt fahren, um dort seinen Antrag auf Sozialhilfe vorzulegen (75% Satz, lediglich als Kredit gewährt!). Weiter erzählt er heute: „Da ich die Nacht nicht schlafen konnte, kam ich auf die Idee, vorher noch Herzberg vor seinem Wohnhaus abzupassen und ihn mit Nachdruck aufzufordern, die Sperre wieder zurückzunehmen. So kam es zu dem letztlich mit dem Tode des Herrn Herzberg geendeten Zusammentreffen. Das alles erscheint mir im Rückblick wie ein unwirklicher Traum. Danach lief ich wie ein Gespenst durch die Gegend." Von bewußtem „politischen Fanal" kann da keine Rede sein, sondern von schierer Verzweiflung und Panik! Dennoch lautet die Anklageschrift auf Mord mit Vorsatz, Heimtücke und „aus niederen Beweggründen".

Bei der Trauerfeier für seinen Kollegen erklärte Jagoda, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit: „Der Tod hat nicht der Person Klaus Herzberg gegolten, sondern der Institution Arbeitsamt". Er verdeutlicht damit den Zusammenhang zwischen der dienstlichen Machtposition des Opfers und der verzweifelten Reaktion des Täters. Es geht natürlich nicht darum, die Tötung eines Angestellten zu rechtfertigen, sondern den sozialen Mechanismus, der solche katastrophalen Entwicklungen verursacht, in Frage zu stellen. Dazu reicht die einfache Feststellung, „Arbeitslosigkeit" sei ­ gleich einer natürlichen Seuche ­ an allem schuld, nicht aus. Der Fall Braeuner verdeutlicht zum einen, daß der vermeintliche „Ausweg" aus der Arbeitslosigkeit, also all jene von Ämtern beförderten „Simulationsmaßnahmen", schädlichere Wirkungen haben, als die von den Betroffenen selbst entwickelten Überlebenslösungen, mit denen sie sich ­ mal besser, mal schlechter ­ eine minimale Stabilität erschaffen können. So wird das Gefühl der Nutz- und Sinnlosigkeit noch verstärkt. Zum andern ist eine Sperre der Arbeitslosenhilfe ­ das Allheilmittel zur „Modernisierung des Arbeitsmarktes" ­ ein Akt der Gewalt, und es ist nicht erstaunlich, daß sie wiederum Gewalt auslöst. Mögen die Befürworter der Nulltoleranz bedenken: Wo vermeintliche „Drückeberger" nicht mehr geduldet werden, könnten sich Amokläufer vermehren.

Das französische Unterstützungskomitee Braeuners schreibt: „Die Gewalttätigkeit dieser Tat ist erschreckend, sie ist aber eine direkte Reaktion auf erlittene Gewalt und Ohnmacht. Werner ist das Thermometer einer steigenden Spannung. Leider wird die Justiz womöglich alles tun, um der sozialen Dimension dieses Falles auszuweichen. Es liegt an uns, zu verdeutlichen, daß Handlungen solcher Art nicht einfach wie gewöhnliche Gerichtsfälle zu behandeln sind. Es ist an uns zu zeigen, daß kriminell gerade jene soziale Logik ist, die Menschen wie Werner in die Verzweiflung treibt. Werner hat bereits mit den acht langen Jahren Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, die seiner Tat vorausgingen, teuer bezahlt. Es wäre um so ungerechter, wenn man gegen ihn Rache üben würde, zumal Herr Herzberg damit nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden kann."

Der Prozeß beginnt am 3. August in Verden.

Guillaume Paoli

Werner Braeuners Anschrift : JVA Verden, Stifthofstr.10, 27283 Verden. Weitere Informationen: wbraeuner.support@free.fr

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